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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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vornehmen und bei Anbruch der Dämmerung wieder auf dem Nangpa La sein, und wenn wir erst einmal verschwunden waren, konnten etwaige Verfolger die Sache mit ihrer gegenseitigen extremen Paranoia selbst klären.
    »Ich weiß nicht«, sagte George immer wieder. »Vielleicht sollten wir uns auf die nepalesische Seite beschränken. Ich meine, was werden sie glauben, wenn sie beide angegriffen werden?«
    »Beide werden glauben, daß die andere Seite lügt«, sagte der Colonel, »und beide haben schon seit Jahren gute Gründe für diese Annahme.«
    Die einzige Frage, die den Colonel wirklich beschäftigte, bestand darin, ob er die richtige Gruppe führte. Sein tiefster Haß galt den Chinesen, und ihr Armeeposten würde sich im Fall eines Angriffs wahrscheinlich besser seiner Haut zu wehren wissen. Doch genau das war der beste Grund, auf der nepalesischen Seite zu bleiben, denn wenn er und die Khampas sich von einem chinesischen Zug in ein Feuergefecht verwickeln ließen, würden sie wahrscheinlich durchdrehen und sie alle umbringen. Sogar der Colonel sah das ein. Andererseits war die Chance, den furchtsamen Nepali einen höllischen Schreck einzujagen, sowohl zufriedenstellend als auch sicher – und war die beste Möglichkeit, die der Manjushri Rimpoche gewähren würde, sich für Birendras Verrat am tibetanischen Widerstand 1972 zu rächen.
    Also versammelten wir uns drei Tage nach unserer Rückkehr mittags auf dem Klosterhof. Dämonenmasken wurden verteilt und Gewehre und Mörser, die den Eindruck machten, als kämen sie aus einem Museum der Kaschmir-Kriege. Ich mußte einen Mörser tragen, und George bekam einen Rucksack mit Munition dafür, in dem sich, dem Gewicht nach zu urteilen, Felsbrocken zu befinden schienen. Der Colonel erklärte uns, wie sich das Ding bedienen ließ. Es stellte sich heraus, daß die Mörser in der Tat Antiquitäten waren, und den Khampas war schon vor langer Zeit die Munition für sie ausgegangen, so daß sie sich Sprengladungen zusammengebastelt hatten, indem sie gestohlene chinesische Patronen ausschlachteten. Sobald sich diese Sprengladungen in den Mörsern befanden, stopfte man sie mit Füllmaterial aus Yakwolle und dann mit Kanonenkugeln oder Vogeldunst oder Felsbrocken, was immer zur Hand war, und feuerte sie ab.
    Der Manjushri Rimpoche kam heraus und gab uns seinen Segen, und Colonel John hielt eine aufmunternde Rede. Dann gesellte sich der Kuden Kalapas in seiner goldenen Zeremonienrobe zu uns, der wie üblich so benommen aussahen, als würde er es nicht mehr lange machen, und fiel plötzlich in eine Trance und machte pompöse Bewegungen, und sie bemühten sich, ihm seinen Helm aufzusetzen, der um die hundert Pfund wog und aussah, als würde er ihn zu Boden zwingen, und sie zogen ihm den Riemen um das Kinn fest, bis er bald erstickte, und dann übernahm ihn der Geist des Dorje Drakden vollends, und er schritt plötzlich mit hervorquellenden Augen auf dem Hof auf und ab und zischte in ersticktem Tibetanisch vor sich hin, das ich nicht verstehen konnte, und schwang ein riesiges Holzschwert und wirbelte herum, so daß wir ihm Platz machen mußten. Es war klar wie Kloßbrühe, daß Dorje Drakden Besitz von ihm ergriffen hatte und uns anschnaubte – eine zornige Gottheit, die unter dem dunklen Himmel und dem seltsamen Licht der ewigen Flamme zwischen uns wandelte, und ich will verdammt sein, wenn sich nicht ein Teil ihres Geistes in jeden von uns ergoß. Als Dorje also mit seinem riesigen Schwert auf den Eingang des Klosters deutete, stürmten wir alle hinein.
    Immer weiter liefen wir, bis die Wände von Kaiapa von einem schmalen, steinernen Gang ersetzt wurden, und wir liefen weiter durch einen Tunnel, der von Butterlampen erhellt wurde, bis wir dann dunkle Stufen in eine große unterirdische Höhle hinabpolterten, deren Wände mit Gold beschlagen waren. Anscheinend handelte es sich dabei um den Hauptbahnhof des gewaltigen Tunnelsystems von Shambhala. »Mann«, sagt George. »Davon hast du mir ja gar nichts erzählt.«
    »Ich habe selbst nichts davon gewußt«, sagte ich. Die wenigen Lichtflecke der Butterlampen zeigten uns nicht gerade viel, doch ich schätzte, daß sich etwa zwanzig Tunneleingänge in diese goldene Höhle öffneten. »Hoffentlich müssen wir den Rückweg nicht allein finden.«
    »Sag sowas nicht.«
    Wir marschierten durch einen der Tunnels los und folgten Kunga Norbu und ein paar Khampas mit Fackeln, die in der Dunkelheit vorausliefen und die Butterlampen füllten und

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