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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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regnete oder schneite es fast jeden Tag eine oder zwei Stunden. Und seit die Chinesen Tibet eingenommen haben, leidet Shambhala unter Überbevölkerung, da es gewissermaßen als geheimes Flüchtlingslager dient. Deshalb umgeben die großen Zelte aus Yakwolle der Bergnomaden das Dorf, und deshalb waren die alten Steinhäuser und das Kloster Kaiapa so überfüllt. So viele Menschen schaffen natürlich Probleme, und der Zustand des Ortes war nicht angeten, George zu beeindrucken. Lhamo versuchte es, indem sie uns das beste Schlafzimmer im Haus gab, direkt über der Küche, wo es am wärmsten war, doch George hatte immer wieder Alpträume, daß das Haus abbrannte, da der Rauch vom Küchenofen in unser Zimmer quoll und es riechen ließ, als brenne das Haus ab. Also stolperte er jeden Morgen sprachlos und erschöpft hinaus, und vor ihm lag dann ein seltsam überfülltes Gebirgsdorf, als sei Markttag, was natürlich nicht der Fall war, und kranke Kinder weinten, weil sie Grippe hatten, und Dr. Choendrak, der Arzt des Klosters, wanderte händeringend durch den Regen, weil all die hervorragenden Planzen- und Mineralmedizinen von Mendzekhang, dem Klosterkrankenhaus in Lhasa, schon längst verbraucht waren.
    Georges Eindruck von den Dingen wurde auch nicht besser, als Kunga Norbu hinabkam, um uns zu begrüßen, und auf seine übliche Art durch George hindurchsah und uns dann beauftragte, mit ein paar Leuten Terrassenwände zu erneuern, was eine Sträflingsarbeit ist, da man die Felsen wie Figuren in einem Zeichentrickfilm mit einem Vorschlaghammer aufbrechen muß. Einen oder zwei Tage solche Arbeit, und George war unzufrieden. »Gottverdammt, Freds, ich könnte in Thamel in der Sonne liegen, und hier kloppe ich Steine. Das ist nicht Shambhala, und du weißt es auch.«
    Ich versicherte ihm, daß es Shambhala sei.
    »Weshalb ist es denn hier so überfüllt? In jedem Haus leben zwei- oder dreimal soviel Menschen, wie es eigentlich der Fall sein sollte, und dann sind da noch die Zelte. Die Sherpas würden niemals so leben.«
    Ich erzählte ihm von dem Flüchtlingsproblem. Von Menschen, die unüberquerbare Pässe überquerten, um den Chinesen zu entkommen, oder die unbegehbare Schlucht hinaufkrochen, die von dem Tal zum tibetanischen Plateau abfiel, und für die Hoffnung auf Flucht den Tod in Kauf nahmen und ihn oftmals auch fanden.
    »Also leben sie hier behelfsmäßig«, sagte George überrascht.
    »Wenn man es nach vierzig Jahren noch so nennen kann.«
    An diesem Abend sah sich George etwas aufmerksamer um. Und zum erstenmal bemerkte er, daß bei uns im Haus Kranke lebten. Eine Kusine Lhamos namens Sindu hatte einen kleinen Jungen, der vor Durchfall ganz geschwächt war. Und diese Kusine Sindu war eine junge Frau, fast noch ein Mädchen, mit einer Menge nepalesischem Blut in ihren Adern, so daß ihr Gesicht schärfer geschnitten war als das der Tibetanerinnen, eins jener Trans-Himalaja-Gesichter, die so schön sind, daß man es fast nicht glauben kann. Und kein Ehemann in der Nähe. Also saß George da und beobachtete sie, als sie sich in der Küche um ihr krankes Baby kümmerte, und ich sah, wie er im Geiste seine Pillen zusammenrechnete.
    Am nächsten Tag zwangsverpflichtete uns Colonel John zu einem Feuerholz-Trieb, was bedeutete, daß wir den ganzen Morgen eine Herde Yaks zusammen- und ins Tal hinabtreiben mußten, zum oberen Ende der Schlucht, die sich nach Tibet erstreckte. Yaks sind große, haarige Zeitgenossen, verdrossen, unkooperativ und jederzeit zu einer plötzlichen Auflehnung fähig, doch der Colonel trieb sie hinab, als seien sie Kadetten in einem Ausbildungslager, schlug sie heftig mit seinem Spazierstock und wurde dafür nur mit Blicken ihrer großen, runden, verdrossenen Augen bedacht.
    Am Mittag ließen wir die Yaks auf der Wiese zurück und erkletterten den steilen Südhang des Tals, bis wir ein Kiefernwäldchen erreichen. Colonel John holte drei kleine Äxte aus seinem Rucksack, Eisenzeit-Werkzeuge ohne jedes Gewicht, und wir schickten uns an, die Bäume zu fällen, auf die er zeigte. »Mann«, sagte George unglücklich, während er drauflosschlug, »das ist schrecklich! Sowas nennt man doch Abforstung, oder?«
    Der Colonel und ich hielten inne und sahen ihn an.
    »Keine Wahl«, sagte der Colonel. »Yakdung brennt nicht ohne etwas Holz im Feuer.«
    »Aber die Erosion …«
    »Ich weiß über die Erosion Bescheid!« schrie der Colonel und hätte beinahe seine Axt gegen George geschwungen. »Wir lassen den

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