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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Stumpf und die Wurzeln zurück, damit sie soviel Erde wie möglich halten, und pflanzen neue Sämlinge an.« Er schlug wütend auf den Baum ein, an dem er arbeitete. »Dreitausend Jahre hat dieses Tal eine stabile Bevölkerung gehabt, doch was kann der Dalai Lama bei einem versklavten Tibet schon machen? Das ist eine der wenigen Fluchtmöglichkeiten.«
    George fragte zögernd, ob man nicht einige Flüchtlinge in tibetanische Dörfer und indische Siedlungen umsiedeln könne.
    »Wen wollen Sie denn aussuchen?« fragte der Colonel. »Wollen Sie sie vom letzten freien Fleck Erde fortschicken? Auf irgendeine Landwirtschaft in Madras, wo sie an der Tiefenkrankheit sterben? Ich habe sie da unten gesehen und sie zu einem Berg geführt, wie damals, als wir den Widerstand nach Colorado brachten, und sie liefen los und sprangen in den Schnee! Wir hatten dort einen Yak aus einem Zoo, und sie liefen zu ihm und umarmten ihn!« Mit einem wütenden Schlag fällte er den Baum. »Ich würde nicht bestimmen wollen, wer von hier verschwinden muß.«
    »Erzählen Sie George von Ihren Khampa-Guerillas«, schlug ich vor.
    John seufzte. »Ich brachte diese Burschen zu der Zeit nach Colorado, als man doch darauf zählen konnte, daß die amerikanische Regierung gegen die Kommunisten kämpft, und ich fragte ein Zimmer voll von ihnen: Wer von euch will aus einem Flugzeug springen und gegen die Chinesen kämpfen, und sie hatten nicht die geringste Ahnung von Fallschirmen und so, doch alle hoben die Hand. Und ich sagte, das sind Jungs nach meinem Geschmack. Genauso war das Marine Corps, bevor es verweichlicht wurde! Wir kamen her und heizten diesen Mördern ein! Bis Birendra uns dann verriet!«
    Damit ging er einen weiteren Baum an und hackte drauflos, als habe er die Knie des Königs von Nepal vor sich. Er murmelte zusammenhanglose Phrasen, mit denen George, wie ich sah, nur wenig anfangen konnte. »Suppe und Kaffee aus Blechdosen und gelaufen, bis ihre Herzen hämmerten!« Hack hack hack. »Hans auf einer Seite und Gurkhas auf der anderen! In alle zwölf Winde verstreut!« Hack hack hack. »Dalai Lama sagt aufhören, aber wer kann sich Birendra ergeben! Pachen schnitt ihm statt dessen die Kehle durch, und ich kann es ihm nicht verdenken! Hätte es selbst tun sollen!« Und er fällte den Baum mit einem wilden Schlag.
    In der Hoffnung, ihn ablenken zu können, erwähnte ich auf Tibetanisch, daß wir schon soviel Holz gehackt hatten, wie die Yaks tragen konnten.
    »Wir tragen ebenfalls!« schnaubte er mich auf Englisch an und arbeitete weiter wie eine Kettensäge.
    Also war es schon später Nachmittag, bevor wir uns in einem kalten Regen wieder talaufwärts schleppten, beladen mit kleinen Kiefern. Ich ließ den Colonel vorausgehen, damit ich die Fragen beantworten konnte, mit denen George mich dann auch bombardierte. Der Colonel und ein paar Khampas, so erklärte ich ihm, hatten den Kampf fortgesetzt, nachdem sich König Birendra Mao unterworfen und der nepalesischen Armee befohlen hatte, den Chinesen zu helfen, die tibetanischen Guerillas in Mustang zu vernichten. Nach diesem Unglück hatten der Colonel und einige Khampas sich in die Berge Tibets zurückgezogen, bis sie in einen Hinterhalt oder so gerieten – der Colonel erinnerte sich nur noch ungenau daran, da er dabei am Kopf verletzt wurde. Er wanderte eine Weile ziellos durch die tibetanische Wildnis, bis er dann über den Paß nach Shambhala kam. Dort hatte Dr. Choendrak ihn geheilt und sein Gedächtnis bis zu einem gewissen Ausmaß wiederhergestellt. »Aber er ist immer noch etwas durcheinander«, sagte ich.
    »Das habe ich gemerkt.«
    »Je nachdem, in welcher Sprache man mit ihm spricht, benimmt er sich völlig anders.«
    George betrachtete die kleine, baumbeladene Gestalt, die vor uns die Yaks trieb. »Ich wette, sein Sprachzentrum wurde beschädigt, und wenn er den größten Teil seines Tibetanisch nach der Verletzung gelernt hat, muß er es auf der anderen Seite seines Gehirns ablegen. Je nachdem, in welcher Sprache man sich mit ihm unterhält, ist eine andere Hälfte seines Gehirns dominant.«
    »Hier glaubt man, es sei vielleicht eine Frage der Inkarnation.«
    »Er glaubt, er sei ein tibetanischer Mönch, der in einem Marine-Corps-Soldaten wiedergeboren wurde?«
    »Manchmal.«
    Wir stiegen die alte Endmoräne hinauf und erhaschten einen Blick auf das Dorf über uns. Eine Lanze aus Sonnenlicht schnitt durch die Wolken und erhellte die Steinmauern und die Grasnarbe, die Gebäude mit

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