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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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zweifelhaften Stellen, an der sechstausend Meter hohe Bergzüge ineinanderstoßen und einige Gipfel auf über siebentausend Meter hochstoßen, liegt das Hochtal von Shambhala.
    Doch noch einige Kilometer südlich davon gerieten George und ich an eine Y-förmige Kluft in unserem Tal, die Wege nach Westen und Norden anbot. Die rechte Gabel stieg langsam zu einem Paß an, der jahrhundertelang als bedeutende Handelsstrecke zwischen Nepal und Tibet gedient hat. Wegen diesem Paß, dem Nangpa La, befand sich der Armeeposten in Chhule – er hatte die Aufgabe, ihn zu schließen.
    Die linke Gabelung wurde von einer hohen Felswand blockiert, die wir erkletterten, und darüber lag ein langes schmales Hochtal, dessen Grund noch von einem Gletscher erfüllt wurde. Wir folgten dem Gletscher hinauf zu einem hufeisenförmigen Ring spitzer Gipfel. Diese Hufeisenwand war Shambhalas letzter Schutz vor zufälligen Besuchern, und als wir zum Kopf des Gletschers marschierten und auf das Trümmergestein, die Schmelzteiche und blauen Eisnadeln hinabsahen, und dann hinauf zu der großen gebogenen Wand aus zerschmetterten Gestein, sagte George plötzlich: »Verdammt, Freds, bist du sicher, daß du dich nicht verirrt hast?«
    Dummerweise war das genau die Stelle, an der ich mich immer verirre. Ich wußte, welche niedrige Stelle in dem hufeisenförmigen Ring unser Paß war, doch den Gletscher und die Schneebetten zu überqueren, um zu seinem Fuß zu gelangen, war nicht einfach, besonders, wenn Wolken aufzogen und das Tal mit Nebel füllten, der so dick wie Erbsensuppe war. Doch schließlich brachte ich uns dorthin, indem ich vereinzelten Spuren von Yetis folgte. Die Yetis nehmen immer den einfachsten Weg über zerrissenes Land, doch sie springen auch über Schluchten, die Menschen nur erschaudernd anstarren können, und so kann man sich nicht immer darauf verlassen, daß sie einen auch zum Ziel führen.
    Am Fuß der Wand mußten wir auf einer felsigen Ebene, die wie der Golfplatz des Teufels aussah, unser Lager aufschlagen. Und am nächsten Morgen schneite es heftig, elende Bedingungen für einen Paß von über sechstausend Metern Höhe, doch es war sinnlos, den Sturm abzuwarten, da es vielleicht zwei Monate lang schneien würde, und so legten wir Steigeisen an und machten uns an den Aufstieg. Bald waren wir so hoch, daß nicht einmal Flechten wuchsen. Dann und wann sahen wir Abdrücke im Schnee, von Menschen, Yetis und Schneeleoparden, und noch höher sahen wir gelegentlich Vogelkot. Und am Nachmittag wurden zu Georges Überraschung die Wolken fortgeweht. Der Monsun regnet sich an der nepalesischen Seite der Gebirgszüge ab, und man hat jedes Jahr ein paar tausend Millimeter Niederschlag, doch gut dreißig Kilometer nördlich, in Tibet, liegt die Einöde völlig im Regenschatten und bekommt so gut wie keinen Tropfen ab. Also gibt es auf dem Gebirgszug selbst alle möglichen kleinen Nischen, in denen der Niederschlag zwischen den beiden Extremen liegt und in denen es wesentlich bessere Lebensumstände gibt. Das Tal von Shambhala hat in etwa das bestmögliche Klima, das es in dieser Gegend gibt, und ich bin sicher, daß der Ort nicht zuletzt aus diesem Grund dort errichtet wurde.
    Auf jeden Fall hatten wir die Wolken unter uns gelassen und standen nun in strahlendem, kaltem, windigem Sonnenschein über einem Wolkenmeer; hier oben waren die Schatten schwarz wie die Nacht, und jeder Fels stach so deutlich aus dem windgepeitschten Schnee hervor, als sähe man ihn unter einem Mikroskop. Wir waren kaum noch zweihundert Meter unter dem Sattel, und nun ließ sich deutlich eine schwache Linie von Fußabdrücken ausmachen, einzelne Abdrücke, die riesige dicke Zehen enthüllten. »Sieh mal«, sagte ich. »Spuren von Yetis.«
    »Komm schon, Freds. Ich glaube nicht an diesen Unsinn.«
    »George, du selbst hast in Katmandu einen Yeti gerettet! Du hast ihn angezogen! Du hast ihn Jimmy Carter vorgestellt! Du hast ihm deine Dodgers-Mütze geschenkt!«
    »Ja, ja.« Er schien dieser Erinnerung nicht besonders zu trauen. »Aber was hätte ein Yeti hier oben verloren?«
    »Was hätte ein Mensch hier oben verloren, der hier barfuß marschiert?«
    Keine Antwort von George.
    Wir folgten den Fußabdrücken, die einen Zickzackkurs für unter ihrer Würde hielten und zielstrebig dem Paß entgegenstrebten. Die Luft war in der Tat dünn, und wir brauchten eine Weile, um das letzte Stück zu schaffen, doch dann sahen wir in dem Paß Mani-Mauern und Pfosten mit

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