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Flucht aus Katmandu

Titel: Flucht aus Katmandu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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Gebetsflaggen, die schon längst vom unablässigen Wind zerfetzt waren, und dieser Anblick half einem den Paß hinauf; der letzte Abschnitt kam einem vor wie eine Rolltreppe.
    Wir konnten es nur ein paar Minuten lang ertragen, im Paß zu bleiben, so kalt war der Wind. Um uns herum liefen alle Gebirgszüge zusammen, nahmen uns die Sicht nach Tibet im Norden und eigentlich auch in jede andere Richtung. Hoch über dem Wind erklang ein kurzes, schriller Schrei, und ich zeigte mit dem Finger auf etwas, das wie ein sich bewegender Schneefleck aussah. Ein Schneeleopard, der half, das heilige Tal zu bewachen. Doch George schenkte diesem Anblick nicht mehr Glauben als seinem Gedächtnis.
    Dann begannen wir den Abstieg in ein schmales Tal, ein ziemlich hoch gelegenes, obwohl es in diesem Augenblick nicht so hoch schien, da wir ja schon höher gewesen waren. Auf dem Talgrund lag das übliche Geröll der mäandernden Bäche verstreut, die sich durch winzige, grün und gelb bewachsene Terrassen schnitten. Darüber lagen verlassene Hütten von Yakhirten, ein paar kahle braune Kartoffelfelder, einige von Steinmauern umsäumte Weiden und Mauern mit Gebetsmühlen. Weiter talwärts hockten auf einer uralten Endmoräne ein paar Steingebäude, deren Schindeldächer in der Mittagssonne dampften. Die Gebäude waren von Nomadenzelten umgeben. Kurz gesagt war es ein völlig normales Himalaja-Gebirgsdorf, das sich vielleicht nur durch die Ruinen eines alten Klosters, das im Dzowg-Festungsstil auf einem Felsvorsprung der Seitenwand des Tals erbaut worden war, von jedem anderen unterschied.
    Ich fühlte, wie mein Herz im Einklang mit den Gebetsflaggen hinter uns glücklich schlug, und streckte eine Hand aus. »Da ist es«, sagte ich zu George. »Da ist Shambhala, da ist der Palast von Kaiapa, da ist das Lotus-Königreich!«
    Er sah mich lange, lange an.
    Tja, ich vermute, er hatte ein Disneyland-Schloß oder ein paar Kristallhäuser erwartet, die drei Meter über dem Boden schwebten, doch so ist es nun mal nicht. Ich mußte ihm Zeit geben, sich daran zu gewöhnen, und so marschierte ich den Weg hinab, und er folgte mir.
    Kurz über lang sprang Colonel John hinter einem Felsen hervor und brüllte »Halt!«, was seine Lungen hergaben. George erschreckte sich so sehr, daß er beinahe einen Herzschlag bekommen hätte.
    Vor uns stand ein kleiner, drahtiger Abendländer mit einem runzligen, schiefen Gesicht. Er trug einen Tarnanzug und hielt ein großes altes Maschinengewehr genau auf uns gerichtet.
    »Schon in Ordnung!« sagte ich zu beiden. »Ich bin's, Colonel. Ich und ein guter Freund.«
    Er musterte uns mit einem vogelähnlich starren Blick. Sein Gesicht war seltsam, runzlig wie das eines alten Mönchs, der zu viele Jahre in großer Höhe in der Sonne verbracht hat – oder, um den Kampfanzug zu berücksichtigen, als fechte er seit zwanzig oder dreißig Jahren einen Gebirgskrieg aus. Ein großer, narbiger Riß auf der linken Seite seines Kopfes verstärkte den letzteren Eindruck, wie auch der militärisch kurze Stoppelhaarschnitt der fünfziger Jahre. Doch die Halsbänder mit Türkisen und Korallen und die Amulette auf seinem Tarnanzug sprachen eher für das Mönchsbild, wie auch seine Augen, in denen etwas Asiatisches lag. Alles in allem hatte es den Anschein, als seien ein alter tibetanischer Mönch und ein im Ruhestand lebender Ausbildungsunteroffizier des Marine Corps zu einem Körper verschmolzen. Was mehr oder weniger ja auch der Fall war.
    »George«, sagte ich vorsichtig, »das ist Colonel John Harris, ehemals bei der CIA und dem U.S. Marine Corps. Er kümmert sich heutzutage um die Sicherheit des Tales.«
    »Ich bin die Sicherheit des Tales«, schnappte der Colonel in einem mittelwestlichen Akzent.
    »Na schön. Colonel, das ist George Fergusson. Er ist hier, um uns bei dem Problem der Straße, die nach Chhule geführt werden soll, zu helfen.«
    »Beweisen Sie's«, schnappte der Colonel.
    »Na ja«, sagte ich hilflos. Dann wechselte ich ins Tibetanische und sprach langsam und deutlich, da der Colonel einer der wenigen Menschen auf Erden ist, die das Tibetanische noch schlechter sprechen als ich. Ich intonierte ein kurzes Gebet an die Kongchog Sum, die Drei Edlen. »Sannggyela kyabsu chio«, sagte ich, was soviel hieß wie ›Ich suche Zuflucht in Buddha!«.
    »Ah!« sagte der Colonel und hängte sich das Gewehr um die Schulter. Er legte die Hände zusammen und verbeugte sich nach Art der Novizen. »Geehrt durch Ihre Anwesenheit«,

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