Flucht aus Katmandu
sagte er auf Tibetanisch. »Gendunla kyabsu chio«, was soviel heißt wie ›Ich nehme Zuflucht im Mönchtum!‹ Was für John allerdings zutraf.
»Wir sind zum Tal unterwegs«, sagte ich, im Tibetanischen bleibend. »Kommen Sie heute abend hinab?«
»Ich habe Wache«, sagte er. Er runzelte die Stirn und fuhr auf Englisch fort: »Bin morgen um null achthundert unten!«
»Dann sehen wir Sie beim Frühstück«, sagte ich und eilte den Weg hinab; George blieb mir dicht auf den Fersen.
»Wer, zum Teufel, war das?« fragte George, als wir außer Hörweite waren.
»Tja, weißt du, in Shambhala leben Menschen aus der ganzen Welt. Wenn sie über das Tal stolpern und die richtige Gesinnung dafür haben, bleiben sie. Wenn sie nicht die richtige Gesinnung haben, erkennen sie es nicht einmal. Du wärest überrascht, wie viele Trekker zufällig über den Paß kommen, einfach glauben, sie wären in einem x-beliebigen, entlegenen Dorf, und wieder verschwinden.«
Keine Antwort von George.
»Und wann ist dieser Colonel John eingetroffen?« sagt er schließlich.
»Er war beim CIA, als sie in den sechziger Jahren den Tibetanern halfen, den Widerstand gegen China zu organisieren. Du weißt darüber Bescheid?«
»Nein.«
»Sie halten es echt geheim. John verbrachte ein paar Jahre mit einer Guerilla-Gruppe in Mustang. Also muß er irgendwann Anfang der Siebziger hierher gekommen sein. Jetzt ist er ein Mönch, und gewissermaßen auch Shambhalas Verteidigungsministerium.«
»Verteidigungsministerium«, sagte George.
Wir preschten wie eine Lawine zu Tal und trafen kurz nach Sonnenuntergang mit pochenden Knien dort ein. Ich führte George direkt zum Haus von Kunga Norbus Familie, und als ich zwischen den vertrauten dreistöckigen Gebäuden die schmalen Steinstraßen entlangschritt, atmete ich die Gerüche von Milchtee und Rauch und nasser Yakwolle ein, und sie drangen wie ein Messer direkt ins Herz meiner Erinnerungen, und ich lachte und begrüßte die Menschen, denen wir begegneten. Es hatte leicht zu schneien begonnen; die Flocken schimmerten wie Katzensilber in der Luft, und ich ertappte mich, wie ich über die Straßen tanzte, trunken vor Freude, nach Hause gekommen zu sein.
Kunga Norbus älteste Schwester Lhamo begrüßte uns an der Tür mit einem breiten Lächeln, brachte uns hinauf in die Küche, ließ uns auf einer breiten Bank vor einer getäfelten Wand Platz nehmen und schickte sich an, uns zu bewirten. Der größte Teil der Familie kam herein, um George zu betrachten und mit mir zu sprechen – Kunga Norbus uralte Mutter, seine jüngeren Schwestern und deren Familien, ein paar entferntere Verwandte, die sie aufgenommen hatten, und die Verwandten dieser Verwandten, bis wir dicht gedrängt saßen. Ich wärmte mir am Feuer die Füße und versuchte, mir mein Tibetanisch in Erinnerung zurückzurufen, um mich mit ihnen zu unterhalten. Lhamo tischte ein Festmahl auf, Tsampa und Buttertee natürlich, aber auch Yakkäse, Margambutter, eine trockne Creme namens Pumar und eine Art Käsekuchen, den sie Thud nennen, vielleicht wegen des Geräuschs, mit dem er unten im Magen aufschlägt. All die vertrauten Geschmackserfahrungen und Gesichter und der Geruch des Yakdungfeuers ließen mich vor Zufriedenheit schnurren, und ich versuchte, ihnen von unserer Reise zu erzählen.
George schwieg natürlich während der Mahlzeit, und er trank keinen Buttertee und aß so wenig, wie es ihm möglich war, ohne seine Gastgeber zu beleidigen. Doch selbst mit den paar Bissen war seine prophylaktische Diät hinfällig, und ich hatte den Eindruck, als mache ihm das schwer zu schaffen; er lauschte seiner Verdauungstätigkeit und schien im Geiste zu überlegen, wieviel Antibiotika er mitgenommen hatte. Er sah sich im Zimmer um, musterte die Teppiche und Schärpen und die Schüsseln und Töpfe aus hellem verbeultem Kupfer und den schwarzen gußeisernen Topf und die Vorhänge und die flache Kohlenpfanne und die großen Butterfässer und die Nyindrog- Truhen und den Webstuhl in der Ecke, und er sah müde und geknickt aus, als habe er mit etwas völlig anderem gerechnet. Ich schätze, er sah einen überfüllten, rauchigen kleinen Holz- und Ziegelraum, und war deshalb so niedergeschlagen.
Nun ja, ich vermute, das Leben in einem buddhistischen Dorf im Himalaja enthüllt seine Schönheit nicht auf den ersten Blick, besonders im Monsun nicht, obwohl, wie ich schon sagte, das Tal, in dem Shambhala liegt, vor dem schlimmsten Wetter geschützt ist. Trotzdem
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