Flucht aus Lager 14
dann alle 35 Schüler im Klassenzimmer zusammengekommen waren, zeigte er auf Shin und rief: »Komm nach vorn und knie nieder!«
Shin kniete fast sechs Stunden auf dem Betonboden. Wenn er etwas hin- und herrutschte, um seine Haltung zu erleichtern, schlug ihn der Lehrer mit seinem Zeigestock.
Am zweiten Tag nach seiner Rückkehr ging die Klasse zu einer Lagerfarm, wo die Jungen Maisstroh zusammenharken und zu einem Dreschboden bringen sollten. Es war eine relativ leichte Arbeit im Vergleich zum Schieben von Kohlewagen, aber Shin musste dazu eine Art Geschirr mit einem Lederband tragen, das die Narben auf dem unteren Teil des Rückens wieder aufscheuerte.
Es dauerte nicht lang und Blut floss seine Beine hinunter und tränkte die Hosen der Schuluniform.
Shin wagte nicht, sich zu beschweren. Sein Lehrer hatte ihn gewarnt, er müsse noch härter arbeiten als seine Kameraden, um die Sünden seiner Mutter und seines Bruders abzuwaschen.
In der Schule und bei der Feldarbeit mussten alle Schüler, die austreten wollten, erst den Lehrer um Erlaubnis fragen. Als Shin das erste Mal nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis um diese Erlaubnis bat, wurde sie ihm verweigert. Shin versuchte danach, seinen Harndrang tagsüber zu unterdrücken, doch schließlich machte er mehrmals die Woche in die Hose, in der Regel dann, wenn er und seine Mitschüler im Freien arbeiteten. Da es Winter war, waren seine Hosen steif gefroren von Urin.
Shin kannte die meisten seiner Klassenkameraden seit ihrem siebten Lebensjahr, als sie gemeinsam eingeschult worden waren. Er war kleiner als die meisten anderen Jungen in seiner Klasse, aber bisher hatten sie ihn als einen von ihnen behandelt. Doch jetzt, da der Lehrer den Ton vorgegeben hatte, begannen sie ihn zu hänseln und zu drangsalieren.
Sie nahmen ihm das Essen weg, boxten ihm in die Magengrube und riefen ihm Schimpfnamen nach. Fast alle waren Varianten von »reaktionärer Hundesohn«.
Shin ist sich bis heute nicht sicher, ob seine Klassenkameraden wussten, dass er seine Mutter und seinen Bruder angezeigt hatte. Er vermutet, dass sein Kindheitsfreund Hong geschwiegen hat, jedenfalls wurde Shin nie aus dem Grund verhöhnt, weil er seine Familie denunziert hatte. Das wäre ein unpatriotischer und riskanter Schulhofspott gewesen, da alle Schüler von den Lehrern und den Wärtern immer wieder angehalten wurden, sie über ihre Eltern und ihre Klassenkameraden zu informieren.
Vor seiner Zeit im Gefängnis war es Shin gelungen, innerhalb der Klasse eine strategische Allianz zu schmieden. Er hatte mit Hong Joo Hyun Freundschaft geschlossen, dem Klassensprecher. (Das war die Stellung, die sich eigentlich Shin von dem Nachtwärter für den Verrat seiner Familie ausbedungen hatte.) Hong teilte die Schüler zu den verschiedenen Arbeitsaufgaben ein und war vom Lehrer befugt, Klassenkameraden zu schlagen und zu treten, die er als Drückeberger ansah. Außerdem war er für den Lehrer der zuverlässigste Denunziant.
Hong selbst konnte geschlagen werden oder der Lehrer konnte ihm das Essen entziehen, wenn die Klasse während der Feldarbeit bummelte und die vorgegebene Norm nicht erfüllte. Seine Stellung ähnelte der von erwachsenen Gefängnisinsassen, die als Jagubbanang oder Bosse bezeichnet wurden. Die Gefängniswärter gaben diesen Bossen, die durchweg Männer waren und in der Regel physisch einschüchternd wirkten, eine praktisch uneingeschränkte Macht über ihre Mitgefangenen. Da die Bosse für jede Nachlässigkeit ihrer Gruppe einstehen mussten, waren sie häufig wachsamer, brutaler und unnachsichtiger als die Lagerwärter.
Auf Shin richtete Hong nun seine besondere Aufmerksamkeit. Als sie einmal eine Straße reparieren mussten, bemerkte Hong, dass Shin seinen Rollwagen mit Steinen so sehr überladen hatte, dass er ihn nicht mehr ziehen konnte. Shin versuchte es immer wieder, aber er war einfach zu schwach dazu.
Als Shin sah, dass sein Klassensprecher mit einer Schaufel auf ihn zukam, dachte er zunächst, dieser würde ihm zu Hilfe kommen und andere Schüler anweisen, sich ins Zeug zu legen und den Wagen ins Rollen zu bringen. Stattdessen holte Hong mit seiner Schaufel aus und schlug ihm damit so hart auf den Rücken, dass Shin zu Boden fiel.
»Zieh jetzt endlich deinen Wagen«, fuhr Hong ihn an.
Er trat Shin gegen den Kopf und befahl ihm, wieder aufzustehen. Als Shin mühsam wieder auf die Beine gekommen war, schlug Hong ihm mit der Schaufel auf die Nase, bis sie blutete.
Nach diesem
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