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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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weiterhin mit ausführlichen Geschichten über gutes Essen, erwähnte jedoch nie seine persönliche Vergangenheit. Er sprach nicht über seine Familie, und er äußerte sich auch nicht über die Regierung.
    Shin vermutete aufgrund der gewählten Sprache seines Mithäftlings, dass er früher ein wichtiger und sehr gebildeter Mann gewesen sein musste. Aber Genaueres konnte er von ihm nicht erfahren.
    Obwohl es streng verboten war, über eine Flucht aus dem Lager zu sprechen, verstieß es nicht gegen die Regeln, sich Fantasien hinzugeben, wie das Leben aussehen könnte, wenn die Regierung einen freiließ. Onkel schien jedenfalls überzeugt, dass sie beide eines Tages freigelassen würden. Bis dahin, sagte er, hätten sie die unbedingte Pflicht, stark zu bleiben, so lange wie möglich zu überleben und niemals an Selbstmord zu denken.
    »Was meinst du dazu?«, fragte er dann. »Meinst du, dass ich es irgendwann rausschaffen werde?«
    Shin glaubte nicht daran, erwiderte jedoch nichts.
    Ein Wärter öffnete die Tür von Shins Zelle und übergab ihm seine Schuluniform, die er an dem Tag angehabt hatte, als man ihn hierher gebracht hatte.
    »Diese Kleider anziehen und sofort mitkommen«, sagte der Wärter.
    Während Shin sich umzog, fragte er Onkel, was jetzt passieren werde. Der alte Mann versicherte ihm, dass ihm nichts geschehen werde und dass sie sich eines Tages in Freiheit wiedersehen würden.
    »Ich möchte dich einmal drücken«, sagte er zum Abschied, fasste Shins beide Hände und drückte sie lange und fest.
    Shin wollte die Zelle nicht verlassen. Noch nie zuvor hatte er einem Menschen vertraut, nie hatte er einen Menschen geliebt. In den kommenden Jahren dachte er an den alten Mann in der dunklen Zelle weit öfter und mit tieferer Zuneigung, als er an seine Eltern dachte. Doch nachdem die Wärter ihn aus der Zelle geführt und hinter sich die Tür verschlossen hatten, sollte er ihn nie wiedersehen.

KAPITEL 8
    Shin sieht seiner Mutter nicht in die Augen
    Sie brachten Shin in den großen, kahlen Raum, in dem man ihn Anfang April zum ersten Mal vernommen hatte. Jetzt war es Ende November. Vor kurzem war Shin 14 Jahre alt geworden. Über ein halbes Jahr lang hatte er keine Sonne zu sehen bekommen.
    Was er in dem Raum sah, jagte ihm einen Schrecken ein: Sein Vater kniete vor zwei Vernehmern an ihren Schreibtischen. Er sah wesentlich älter aus und noch verhärmter als früher. Man hatte ihn etwa zur selben Zeit in das unterirdische Gefängnis gebracht wie Shin.
    Als er neben ihm kniete, konnte Shin sehen, dass das rechte Bein seines Vaters auf unnatürliche Weise nach außen abknickte. Shin Gyung Sub war ebenfalls gefoltert worden, man hatte ihm unterhalb seines rechten Knies die Knochen gebrochen, die dann nicht mehr richtig zusammengewachsen waren. Diese Verkrüppelung beendete seine vergleichsweise bequeme Arbeit als Mechaniker und Dreher des Lagers. Von nun an musste er als einfacher Hilfsarbeiter auf dem Bau herumhumpeln.
    Während seiner Zeit im unterirdischen Gefängnis sagten die Wärter Shins Vater, dass sein jüngster Sohn ihnen den Fluchtplan verraten habe. Als Shin später eine Möglichkeit hatte, mit seinem Vater darüber zu sprechen, verlief das Gespräch sehr angespannt. Sein Vater sagte, es sei besser gewesen, den Plan anzuzeigen, als das Risiko auf sich zu nehmen, ihn zu verschweigen. Doch sein bitterer Ton dabei verstörte Shin. Es hörte sich so an, als wisse der Vater, dass Shin instinktmäßig denunzierte.
    »Durchlesen und einen Daumenabdruck«, sagte einer der Vernehmer und übergab Shin und seinem Vater jeweils ein Formular.
    Es war eine Verschwiegenheitserklärung, in der Vater und Sohn sich verpflichteten, nie jemandem zu erzählen, was sie im Gefängnis erlebt hatten. Sollten sie dagegen verstoßen, würden sie bestraft werden.
    Nachdem sie ihren Daumen zuerst auf ein Stempelkissen und anschließend auf ihre Formulare gedrückt hatten, legte man ihnen wieder Handschellen und Augenbinden an und führte sie aus dem Raum und zum Aufzug. Oben angekommen, brachte man sie – noch immer in Handschellen und mit verbundenen Augen – zu einem Kleinwagen, bugsierte sie auf den Rücksitz und fuhr davon.
    Shin nahm an, dass er und sein Vater ins Lagerleben entlassen würden. Die Wärter hätten sie sicher nicht genötigt, die Verschwiegenheitserklärung zu bestätigen, wenn sie sie erschießen wollten. Das ergäbe keinen Sinn. Doch als der Wagen nach ungefähr einer halben Stunde anhielt und man ihnen

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