Flucht aus Lager 14
benutzte die Mahlzeiten dazu, dreimal am Tag eine medizinische Behandlung vorzunehmen, wobei er den Holzlöffel verwendete, um Shins infizierte Wundblasen auszuquetschen.
»Da hat sich viel Eiter angesammelt«, bemerkte er. »Ich werde ihn ausdrücken, also hab Nachsicht mit mir.«
Er rieb gesalzene Kohlsuppe als Desinfektionsmittel in die Wunden. Er massierte Shins Arme und Beine, damit seine Muskeln nicht verkümmerten. Um zu verhindern, dass seine Ausscheidungen in Kontakt mit den Wunden kamen, brachte er den hierfür bestimmten Eimer zu Shin und half ihm, sich daraufzusetzen.
Shin vermutet, dass sich diese intensive Pflege über etwa zwei Monate erstreckte. Er hatte den Eindruck, dass Onkel so etwas schon einmal gemacht hatte, schließlich kannte er sich darin gut aus und verrichtete die Prozeduren ganz gelassen.
Manchmal konnten die beiden die Schreie und das Stöhnen von gefolterten Häftlingen hören. Der Raum mit der Winde und den Holzprügeln lag anscheinend am Ende des Ganges. Die Gefängnisvorschriften verboten den Häftlingen, miteinander zu sprechen. Doch in ihrer Zelle, die gerade groß genug war, dass Shin und Onkel nebeneinander schlafen konnten, war es ihnen möglich, miteinander zu flüstern. Shin entdeckte später, dass die Wärter über diese Gespräche Bescheid wussten.
Wie Shin vermutete, hatte Onkel eine Sonderstellung bei den Wärtern. Sie schnitten ihm das Haar und liehen ihm eine Schere, mit der er seinen Bart stutzen konnte. Sie brachten ihm Becher mit Wasser. Sie sagten ihm die Uhrzeit, wenn er sie danach fragte. Sie gaben ihm Extrarationen Essen, die er zumeist mit Shin teilte.
»Junge, du hast noch viele Tage deines Lebens vor dir«, sagte Onkel. »Sie sagen, die Sonne scheint sogar auf Mäuselöcher.« Die medizinischen Fähigkeiten des alten Mannes und seine fürsorglichen Worte hielten den Jungen am Leben. Sein Fieber ging schließlich zurück, seine Gedanken klärten sich, und seine Brandwunden verschorften und vernarbten.
Zum ersten Mal erlebte Shin anhaltende Freundlichkeit, und er fand keine Worte für seine Dankbarkeit. Doch gleichzeitig verwirrte sie ihn auch. Er hatte seiner Mutter nicht zugetraut, dass sie ihn vor dem Hungertod bewahren würde. Auch in der Schule vertraute er keinem, vielleicht mit Ausnahme von Hong Sung Jo, stattdessen denunzierte er jeden. Andererseits war es für ihn selbstverständlich, dass er verprügelt und verraten wurde. In dieser Zelle nun polte Onkel nach und nach diese Erwartungen um. Der alte Mann sagte, er sei einsam, und er schien aufrichtig glücklich zu sein, seine Zelle und seine Mahlzeiten mit jemandem zu teilen. Niemals verärgerte er Shin, machte ihm Angst oder hemmte den Fortgang seiner Gesundung.
Das stetige Einerlei des Häftlingslebens nach den Verhören und der Folterung tat Shin – abgesehen von den Schreien, die gelegentlich über den Gang hallten – merkwürdig gut. Obwohl das Essen fad schmeckte, brachten die Wärter ihnen genug, dass beide überleben konnten. Sie mussten keine gefährliche Arbeit verrichten, und es gab keine knochenbrechenden Arbeitsnormen. Zum ersten Mal in seinem Leben wurde von Shin nicht erwartet, körperliche Arbeit zu leisten.
Wenn er nicht den Jungen pflegte, war Onkel ein Mann der Muße: Er machte täglich Gymnastik in seiner Zelle. Er schnitt Shin das Haar und war ein unterhaltender Erzähler, dessen Kenntnisse von Nordkorea Shin faszinierten, zumal wenn es ums Essen ging.
»Onkel, erzählen Sie mir eine Geschichte«, sagte er gern.
Der alte Mann schilderte, wie Nahrungsmittel außerhalb der Lagerzäune aussahen, wie sie rochen und schmeckten. Es war seinen liebevollen Schilderungen von der Zubereitung von gebratenem Schweinefleisch, gekochtem Huhn oder dem Verzehr von Muscheln am Strand zu verdanken, dass sich bei Shin schließlich ein mächtiger Appetit regte.
Als er wieder auf die Beine gekommen war, holten die Wärter ihn wieder aus der Zelle zu sich. Sie wussten jetzt, dass Shin selbst es gewesen war, der seine Mutter und seinen Bruder denunziert hatte, und sie bedrängten ihn nun, ihnen alles über seinen Mithäftling zu berichten.
Als er wieder in der Zelle war, wollte Onkel wissen, wonach sie ihn gefragt hatten.
In der Klemme zwischen seinem Wohltäter und seinen Wärtern entschied sich Shin dafür, beiden Seiten jeweils die Wahrheit zu sagen. Onkel sagte er, sie hätten ihn aufgefordert, ihn zu bespitzeln, was den alten Mann keineswegs überraschte. Er unterhielt Shin auch
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