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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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mit Hunger, Misshandlungen und Schlafmangel unterworfen werden.
    »Selbstmord war im Lager keine Seltenheit«, schrieb Kang Chol-hwan in seinen Erinnerungen an die zehn Jahre, die er im Lager 15 verbracht hatte. »Etliche unserer Nachbarn haben diesen Weg gewählt … Die meisten von ihnen hinterließen Briefe, in denen sie das Regime anklagten oder zum Allermindesten seinen Geheimdienst … Um die Wahrheit zu sagen, irgendeine Form der Bestrafung hatte die Familie zu erwarten, gleichgültig, ob ein anklagender Brief hinterlassen wurde oder nicht. Es war eine Regel, die keine Ausnahme zuließ. Die Partei betrachtete einen Selbstmord als einen Versuch, sich ihrer Macht zu entziehen, und wenn der Betreffende, der den Versuch erfolgreich unternommen hatte, nicht mehr zur Verfügung stand, um dafür zu büßen, musste ein Ersatz für ihn gefunden werden.« 11
    Nach Informationen der Korean Bar Association in Seoul warnt der nordkoreanische Geheimdienst alle Häftlinge, dass ein Selbstmord mit einem verlängerten Lageraufenthalt für die überlebenden Verwandten bestraft werde.
    In seinen Erinnerungen an rund sechs Jahre in zwei dieser Lager schreibt Kim Yong, ein ehemaliger Oberstleutnant in der nordkoreanischen Armee, die Verlockung eines Selbstmords sei »überwältigend«.
    »Die Häftlinge waren über den Punkt hinaus, Hunger zu fühlen, so dass sie sich ständig in einem Zustand des Deliriums befanden«, notierte Kim, der nach seinen Angaben zwei Monate im Lager 14 verbrachte, bevor er jenseits des Taedongs in das Lager 18 verlegt wurde, ein politisches Lager, in dem die Wärter weniger brutal waren und die Häftlinge etwas mehr Freiheit hatten.
    Bei dem Versuch, den Zustand eines permanenten Deliriums im Lager 14 zu beenden, war Kim in den Schacht eines Kohlenbergwerks gesprungen. Als er schwer verletzt auf dem Boden des Schachts lag, verspürte er mehr Enttäuschung als Schmerzen: »Ich bedauerte, dass ich keine bessere Möglichkeit gefunden hatte, um dieser unbeschreiblichen Folter wirklich ein Ende zu machen.« 12
    So entsetzlich das Leben Shins nach der Hinrichtung seiner Mutter und seines Bruders geworden war, Selbstmord war für ihn nie mehr als ein flüchtiger Gedanke.
    In seinen Augen bestand ein grundlegender Unterschied zwischen den Häftlingen, die irgendwann hergebracht, und denen, die im Lager geboren wurden: Viele von außen kommende Häftlinge, zutiefst verstört über die Kluft zwischen einer mehr oder weniger angenehmen Vergangenheit und einer zermürbenden Gegenwart, verloren jeden Lebenswillen. Ein perverser Vorteil für den im Lager Geborenen bestand darin, dass er sich gar nicht erst irgendwelche Hoffnungen machte.
    Und so konnte es Shin nicht passieren, dass der Kummer über seine traurige Lage in völlige Hoffnungslosigkeit mündete. Für ihn gab es keine Hoffnung, die er hätte verlieren, keine Vergangenheit, der er hätte nachtrauern, und keinen Stolz, den er hätte verteidigen können. Er fand nichts dabei, verschüttete Suppe vom Boden aufzulecken. Er schämte sich nicht, vor seinem Lehrer niederzuknien und ihn um Verzeihung zu bitten. Er empfand keine Gewissensbisse, einen Freund zu denunzieren, wenn er dafür eine Extraration Essen bekam. Das alles waren Methoden zum Überleben und kein Anlass für einen Selbstmord.
    Die Lehrer an Shins Schule wechselten nur selten ihren Arbeitsplatz. In den sieben Jahren, die nun seit seiner Einschulung vergangen waren, hatte er nur zwei Lehrer gehabt. Doch vier Monate nach der Hinrichtung gab es eine Änderung: Eines Morgens war der Lehrer, der ihn misshandelt und die Mitschüler dazu aufgefordert hatte, dasselbe zu tun, nicht mehr da.
    Sein Nachfolger ließ zunächst keine Anzeichen dafür erkennen, dass er anders verfahren würde als sein Vorgänger. Wie fast jeder Wärter im Lager war er ein namenloser, bullig aussehender Mann Anfang dreißig, der verlangte, dass die Schüler ihren Kopf und ihre Augen senkten, wenn sie mit ihm sprachen. Shin schilderte ihn als einen Menschen, der ebenso kalt, abweisend und tyrannisch war wie die anderen.
    Doch in einer Hinsicht war er anders: Er hatte offensichtlich kein Interesse daran, Shin an Unterernährung sterben zu lassen.
    Bis zum März 1997, etwa vier Monate nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, war Shin so weit abgemagert, dass ihm der Hungertod drohte. Von seinem Lehrer und den Mitschülern ständig schikaniert, konnte er sich nicht mehr ausreichend ernähren. Seine Brandwunden schienen einfach

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