Flucht aus Lager 14
nicht zu heilen, noch immer bluteten seine Narben. Er wurde immer schwächer und konnte die ihm zugewiesenen Arbeitsnormen nicht erfüllen, was weitere Schläge, noch weniger Essen und weitere Blutungen zur Folge hatte.
Der neue Lehrer nahm Shin nach dem Essen mit in die Kantine. Er erlaubte ihm, alles zu essen, was er an Resten irgendwo finden konnte, und manchmal organisierte er für ihn etwas Essbares. Außerdem teilte er ihn nicht mehr für schwere Arbeiten ein und sorgte dafür, dass Shin auf einem warmen Platz im Schlafsaal schlafen durfte.
Was ebenso wichtig war: Der neue Lehrer verbot den anderen Schülern, Shin zu schlagen und ihm sein Essen wegzunehmen. Die Schmähungen hörten auf. Der Klassensprecher Hong Joo Hyun, der ihm eine Schaufel ins Gesicht geschlagen hatte, freundete sich wieder mit ihm an. Shin nahm langsam wieder zu, und die Wunden auf dem Rücken heilten schließlich ab.
Vielleicht hatte der Lehrer Mitleid mit einem Schüler, auf dem alle herumhackten und der hatte mit ansehen müssen, wie seine Mutter getötet wurde. Möglicherweise hatten aber auch höhergestellte Wärter erfahren, dass ein sadistischer Lehrer einen zuverlässigen Informanten schikanierte. Vielleicht hatte man dem neuen Lehrer auch nur gesagt, er solle sich um Shin besonders kümmern, damit er nicht vor die Hunde ging.
Warum der Lehrer ihn schützte, hat Shin nie herausbekommen. Für ihn steht jedenfalls fest, dass er ihm das Leben rettete.
KAPITEL 10
Auf der Baustelle
Tag für Tag wurde das Essen mit Traktoren auf die Baustelle gebracht. Es gab Unmengen Maisbrei und dampfende Kessel mit Kohlsuppe.
1998 war Shin 15 Jahre alt und arbeitete an der Seite von Tausenden Lagerhäftlingen, die ein Wasserkraftwerk am Taedong errichteten, dem Fluss, der die südliche Grenze des Lagers 14 bildet. Das Projekt stand unter Zeitdruck, und die Mägen der Arbeitssklaven mussten dreimal am Tag gefüllt werden. Die Wärter erlaubten den Arbeitern sogar – rund 5000 erwachsene Häftlinge und einige hundert Schüler der höheren Schule im Lager –, im Fluss Fische und Frösche zu fangen.
Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Shin ein ganzes Jahr lang gut zu essen.
Die nordkoreanische Regierung hatte beschlossen, dass das Lager mit seinem Hochspannungszaun und seinen Betrieben, in denen Militäruniformen, Glaswaren und Zement produziert wurden, möglichst schnell eine zuverlässige Stromversorgung erhalten sollte.
»Hey, hey! Achtung! Sie bricht!«, rief Shin eines Tages seinem Arbeitstrupp zu . Er schleppte gerade Flüssigbeton, als er bemerkte, dass eine frisch gegossene Betonmauer begann, in sich zusammenzubrechen. Unterhalb arbeitete eine Kolonne von acht Häftlingen an einer weiteren Mauer.
Er schrie, so laut er konnte, doch es war zu spät.
Die acht Arbeiter, drei Erwachsene sowie drei Mädchen und zwei Jungen im Alter von 15 Jahren, kamen alle ums Leben. Mehrere von ihnen wurden von den Betonmassen so zermalmt, dass ihre Leichen nicht mehr kenntlich waren. Der Aufseher unterbrach die Arbeit nach dem Unfall nicht. Am Ende der Schicht beauftragte er einfach Shin und weitere Arbeiter, die Leichen wegzuschaffen.
Die Berge in Nordkorea werden kreuz und quer von großen und kleinen schnell fließenden Bächen und Flüssen durchzogen. Ihr hydroelektrisches Potenzial ist so groß, dass vor der Teilung des Landes 90 Prozent des auf der Halbinsel erzeugten Stroms aus dem Norden kamen. 13
Doch unter der Kim-Dynastie hatte es die nordkoreanische Regierung versäumt, ein zuverlässiges nationales Stromversorgungsnetz, gespeist von Wasserkraftwerken, von denen viele in abgelegenen Regionen liegen, zu erhalten, geschweige denn zu erweitern. Als die Sowjetunion zu Beginn der neunziger Jahre die Versorgung Nordkoreas mit billigem Heizöl beendete, stellten die mit Heizöl betriebenen Wärmekraftwerke in den Großstädten nach und nach ihren Betrieb ein. Damit gingen in einem Großteil des Landes die Lichter aus, und die meiste Zeit sind sie es noch immer.
Satellitenfotos der koreanischen Halbinsel, die nachts aufgenommen wurden, zeigen zwischen China und Südkorea ein schwarzes Loch. Es gibt nicht genügend elektrischen Strom im Land, um auch nur die Straßenlaternen in Pjöngjang zu speisen, wo doch die Regierung darauf bedacht ist, die Elite zu verwöhnen. Im Februar 2008, als ich für drei Tage und zwei Nächte als Mitglied einer großen Delegation ausländischer Journalisten nach Pjöngjang reiste, um über ein Konzert der New Yorker
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