Flucht aus Lager 14
die Augenbinde abnahm, geriet Shin in Panik.
Auf dem abgeernteten Weizenfeld in der Nähe des Hauses seiner Mutter hatte sich eine Menschenmenge versammelt. Es war jener Platz, auf dem Shin, seit er ein Kind war, jedes Jahr zwei bis drei Hinrichtungen erlebt hatte. Man hatte provisorisch einen Galgen aufgestellt und daneben einen Pfahl in die Erde gerammt.
Shin war überzeugt, dass er und sein Vater hingerichtet werden sollten. Er nahm plötzlich schmerzhaft wahr, wie er Luft in seine Lungen einsog und wieder ausatmete. Er hatte das Gefühl, dass dies die letzten Atemzüge seines Lebens waren.
Seine Panik ließ nach, als einer der Wärter barsch den Namen seines Vaters aufrief.
»He, Gyung Sub. Setz dich in die vorderste Reihe.«
Shin wurde aufgefordert, mit seinem Vater zu gehen. Einer der Wärter nahm ihnen die Handschellen ab, sie setzten sich hin. Der Aufseher, der die Hinrichtung leitete, begann eine kleine Rede zu halten. Shins Mutter und sein Bruder wurden nach vorn gezerrt.
Shin hatte sie weder gesehen noch etwas über ihr Schicksal gehört, seit er das Haus seiner Mutter verlassen hatte, um sie anzuzeigen.
»Hingerichtet werden Jang Hye Gyung und Shin He Geun, Volksverräter«, sagte der leitende Beamte.
Shin drehte den Kopf zu seinem Vater. Dieser weinte lautlos.
Die Scham, die Shin über die Hinrichtungen empfindet, wurde im Lauf der Jahre verstärkt durch die Lügen, die er sich in Südkorea ausgedacht hatte.
»Es gibt nichts in meinem Leben, das an diese Bürde heranreicht«, sagte mir Shin eines Tages in Kalifornien, als er erläuterte, wie und warum er seine Vergangenheit falsch wiedergegeben hatte.
Aber am Tag der Hinrichtung hatte er noch keine Scham empfunden. Er war wütend. Er hasste seine Mutter und seinen Bruder mit der wilden Radikalität eines Heranwachsenden, der sich ungerecht behandelt und verletzt fühlt.
In seinen Augen war er wegen ihres dummen und egoistischen Plans fast gestorben und sein Vater zum Krüppel geworden.
Als seine Mutter von zwei Wärtern zum Galgen gezerrt wurde, sah Shin, dass das Gesicht seiner Mutter verquollen aussah. Sie zwangen sie, sich auf eine Kiste unter dem Galgen zu stellen, knebelten sie, banden ihre Arme hinter ihren Rücken und zogen eine Schlinge um ihren Hals zusammen. Sie legten ihr keine Augenbinde an.
Sie suchte die Menge ab und fand Shin. Er wich ihrem Blick aus.
Nachdem die Wärter die Kiste unter ihren Füßen weggezogen hatten, begann der Körper verzweifelt zu zucken. Als Shin seine Mutter so im Todeskampf sah, dachte er, sie habe den Tod verdient.
Shins Bruder sah ausgezehrt und zerbrechlich aus, als er an den Pfosten gefesselt wurde. Drei Wärter gaben mit ihren Gewehren jeweils drei Schüsse ab. Die Kugeln zerfetzten den Strick, mit dem sein Kopf in der Höhe der Stirn an den Pfahl gebunden war. Es war ein blutiges, grässliches Schauspiel, das bei Shin Übelkeit und Furcht auslöste. Aber auch der Bruder hatte seiner Meinung nach diesen Tod verdient.
KAPITEL 9
Ein reaktionärer Hundesohn
Dass Eltern wegen eines Fluchtversuchs hingerichtet wurden, war im Lager 14 nichts Ungewöhnliches. Es war jedoch nicht klar, was mit den Kindern der Getöteten geschah. Soweit Shin herausgefunden hatte, durften diese Kinder keinen Schulunterricht mehr besuchen.
Er selbst war eine Ausnahme.
Möglicherweise weil er sich als Denunziant bewährt hatte, schickte ihn die Lagerleitung wieder in die Schule zurück. Doch zurückzukehren war nicht einfach.
Der Ärger begann schon, als er nach der Hinrichtung zu seiner Schule ging, wo ihn sein Lehrer ansprach. Shin kannte ihn seit zwei Jahren (wusste aber seinen Namen nicht) und hatte ihn als relativ gerechten Menschen in Erinnerung, zumindest gemessen an den Gebräuchen des Lagers.
Jetzt jedoch war der Lehrer höchst aufgebracht. Er wollte wissen, warum Shin wegen der Fluchtabsicht seiner Mutter zum Nachtwärter gegangen war statt zu ihm.
»Warum bist du nicht zuerst zu mir gekommen?«, brüllte er ihn an.
»Ich wollte ja, aber ich konnte Sie nicht erreichen«, erwiderte Shin und erklärte, dass es spät am Abend gewesen sei und das Haus des Lehrers in der verbotenen Zone lag.
»Du hättest bis zum Morgen warten können«, sagte der Lehrer.
Er hatte keinerlei Anerkennung von seinen Vorgesetzten für die Aufdeckung des Fluchtplans bekommen. Für ihn lag die Schuld, dass er übergangen wurde, bei seinem Schüler, und er drohte Shin, dass er für seine Unachtsamkeit bezahlen werde. Als später
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