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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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Vorfall begannen Klassenkameraden, die jünger und kleiner waren als Shin, seine Mutter zu schmähen. Vom Lehrer ermutigt, riefen sie ihm Schimpfwörter nach und boxten ihn.
    Durch seine Zeit in der Gefängniszelle war Shin stark geschwächt, ihm fehlte jegliche Ausdauer. Nach der Rückkehr zu der langen, harten Arbeit und der mageren Schulkost fühlte er ständig nagenden Hunger.
    Im Speisesaal der Schule hielt er unentwegt Ausschau nach verschütteter Kohlsuppe. Er tauchte seine Hand in die schmutzigen, kalten Pfützen auf dem Boden und leckte danach die Finger ab. Überall auf Böden, Wegen und Feldern suchte er nach Reiskörnern und Bohnen oder Kuhfladen, in denen sich vielleicht unverdaute Maiskörner befanden.
    Während eines morgendlichen Arbeitsauftrags im Freien im Dezember, wenige Wochen nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis, entdeckte er in einem Strohhaufen eine Ähre mit Körnern, die er auf der Stelle verschlang. Hong Joo Hyun hatte ihn dabei beobachtet und rannte sofort auf ihn zu. Er packte ihn bei den Haaren und zog ihn zum Lehrer.
    »Herr Lehrer, statt zu arbeiten, hat Shin nach Essbarem gesucht.«
    Als Shin auf die Knie fiel und um Verzeihung bat (eine rituelle Demutshaltung, die er instinktiv einnahm), schlug ihm der Lehrer mit einem Stock auf den Kopf und rief die anderen Schüler in der Nähe zu sich, damit sie den Übeltäter bestraften.
    »Kommt her und schlagt ihn«, forderte der Lehrer sie auf.
    Shin wusste, was jetzt passieren würde. Er selbst hatte viele seiner Klassenkameraden mit der flachen Hand oder mit der Faust geschlagen, wenn der Lehrer zu einer Klassenkeile gegen einen Einzelnen aufrief. Die Schüler stellten sich vor Shin in einer Schlange auf. Die Mädchen schlugen ihn mit der flachen Hand auf die rechte Backe, die Jungen auf die linke. Soweit Shin sich erinnerte, wurde das Ritual fünfmal wiederholt, bevor der Lehrer es beendete und zum Mittagessen rief.
    Vor seiner Zeit im Gefängnis und bevor sein Lehrer angefangen hatte, die Schüler gegen ihn aufzustacheln, wäre Shin niemals der Gedanke gekommen, jemandem die Schuld dafür zu geben, dass er im Lager 14 geboren worden war. Seine bescheidene Existenz beschränkte sich auf die Suche nach Nahrung und die Vermeidung von Schlägen. Der Außenwelt stand er gleichgültig gegenüber, seinen Eltern ebenso wie der Geschichte seiner Familie. Soweit er überhaupt an etwas glaubte, war es das Mantra seiner Wärter von der Erbsünde. Für einen Spross von Verrätern gab es nur einen Weg zur Erlösung und zur Abwendung eines Hungertodes: harte Arbeit.
    Nachdem er jedoch das Gefängnis verlassen hatte und sich in der Schule wiederfand, war er voller Groll. Noch spürte er keine Schuldgefühle gegenüber seiner Mutter und seinem Bruder; das sollte erst viel später kommen. Doch seine Monate in der Zelle zusammen mit Onkel hatten, wenn auch nur vorsichtig, einen Vorhang zu der Welt hinter dem Zaun gelüftet.
    Shin war bewusst geworden, dass es Dinge gab, die er niemals sehen und niemals essen würde. Der Schmutz, der Gestank, die Düsternis und die Freudlosigkeit des Lagers bedrückten ihn. Als er begann, in Ansätzen so etwas wie Selbstbewusstsein zu entwickeln, entdeckte er Einsamkeit, Trauer und Sehnsucht.
    Vor allem war er wütend auf seine Eltern. Er verachtete seine Mutter wie seinen Vater, weil sie aus eigensüchtigen Gründen ein Kind in die Welt gesetzt hatten, dessen Schicksal es war, sein ganzes Leben in einem Arbeitslager zu verbringen. Kurz nach der Hinrichtung seiner Mutter und seines Bruders, als sie die Hinrichtungsstätte verließen, hatte sein Vater den Jungen trösten wollen.
    »Bist du in Ordnung? Bist du irgendwo verletzt? Hast du deine Mutter da unten gesehen?«, fragte er ihn mehrfach und meinte damit das unterirdische Gefängnis.
    Shin war zu aufgebracht, um ihm eine Antwort zu geben.
    Nach der Hinrichtung war es ihm sogar zuwider, das Wort »Vater« auszusprechen. An den seltenen Tagen, an denen er schulfrei hatte – etwa 14 Tage im Jahr –, wurde von ihm erwartet, dass er ihn aufsuchte. Doch während dieser Besuche weigerte sich Shin oft zu sprechen.
    Sein Vater versuchte um Entschuldigung zu bitten.
    »Ich weiß, dass du leidest, weil du die falschen Eltern hast«, sagte er zu ihm. »Du hattest das Pech, uns geboren worden zu sein. Aber es ist nun einmal geschehen.«
    Selbstmord ist eine starke Versuchung für Nordkoreaner, die aus ihrem gewohnten Leben herausgerissen und dem Regime eines Zwangsarbeitslagers

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