Flucht aus Lager 14
von zusätzlichem Weideland »im Einklang mit der Parteilinie« sowie die Erweiterung der Sonnenblumenzucht. Der Erfolg dieser Gartenwirtschaftskampagne ist im besten Fall gemischt, vor allem was die höchst unpopulären Bemühungen der Regierung angeht, die Stadtbevölkerung für die zermürbende Landarbeit zu begeistern.
Beim Staudammprojekt im Lager 14 stellte sich das Problem mangelnder Motivation nicht.
Soweit Shin es mitbekam, gaben die Wärter eine neue »Demonstration der Anstrengung« für den Bau eines Wasserkraftwerks bekannt, und bald darauf marschierten Tausende Häftlinge von den Fabriken zu den behelfsmäßig errichteten Schlafbaracken am Nordufer des Taedong-Flusses. Shin und seine Klassenkameraden machten sich ebenfalls auf den Weg. Sie alle arbeiteten, aßen und schliefen auf der Baustelle, rund zehn Kilometer südöstlich vom Zentrum des Lagers entfernt.
Gearbeitet wurde am Staudamm – einem, wie auf Satellitenfotos zu erkennen ist, massivem Betonbau, der sich über einen breiten Fluss erstreckt, mit Turbinen und Hochwasserüberlauf am Nordufer – rund um die Uhr. Lastwagen fuhren Zement, Sand und Kies an. Shin sah nur einen einzigen dieselbetriebenen Bagger auf der Baustelle – der größte Teil der Ausschachtungen und des Baus wurde von Arbeitern mit Schaufeln, Körben und bloßen Händen durchgeführt.
Shin hatte schon früher im Lager Häftlinge sterben sehen – an Hunger, Krankheiten, Schlägen und bei öffentlichen Hinrichtungen –, aber nicht als alltägliche Folge der Arbeit.
Der größte Verlust an Menschenleben während der Bauarbeiten ereignete sich bald nachdem der eigentliche Bau in Angriff genommen wurde. Zur Regenzeit im Juli 1998 führte der Taedong innerhalb kürzester Zeit Hochwasser, dessen Welle Hunderte Dammarbeiter und Schüler mit sich riss. Shin sah die Katastrophe von einer Erhöhung auf dem gegenüberliegenden Ufer mit an. Schnell wurde er damit beauftragt, die Identität der ertrunkenen Schüler festzustellen und ihre Leichen zu begraben.
Am dritten Tag nach der Flut trug er den aufgedunsenen Leichnam eines Mädchens auf dem Rücken. Anfangs war er noch beweglich, doch bald schon setzte die Leichenstarre ein, die Arme und Beine standen steif vom Körper ab. Um den Leichnam in ein schmales, selbst ausgehobenes Grab legen zu können, musste Shin die Glieder des Mädchens mit Gewalt zusammendrücken.
Einige der von der Flutwelle mitgerissenen, ertrunkenen Schüler fand man ohne Kleider. Als Hong Joo Hyun eine nackte Mitschülerin in den Trümmern entdeckte, zog er die eigenen Kleider aus, um damit die Leiche zu bedecken.
Während die Aufräumarbeiten weitergingen, wetteiferte Shin mit vielen anderen Schülern, wer die meisten Leichen fand. Denn für jede geborgene und begrabene Leiche erhielten sie von den Wärtern als Prämie eine oder zwei Portionen Reis.
Der Taedong war dort, wo er am Lager vorbeifloss, zu breit und zu schnell, um im nordkoreanischen Winter zu vereisen, also wurden die Bauarbeiten am Staudamm ohne Unterbrechung fortgesetzt. Im Dezember 1998 musste Shin an den seichten Stellen in den Fluss waten, um Flusssteine herauszuholen. Weil er die Kälte nicht ertragen konnte, schloss er sich ohne Erlaubnis des Aufsehers mehreren anderen Schülern an, die versuchten, an Land zu gehen.
»Wenn ihr ans Ufer geht, werde ich euch alle verhungern lassen, das sage ich euch!«, rief ihr Wärter.
Daraufhin setzte Shin trotz der Eiseskälte seine Arbeit im Fluss fort.
Die Schüler wurden hauptsächlich als ungelernte Hilfskräfte eingesetzt. Häufig schafften sie Armierungseisen zu älteren Bauarbeitern, die sie dann mit robustem Zwirn oder Draht zusammenbanden, während der Damm nach und nach höher wuchs. Keiner der Schüler hatte Handschuhe an, und im Winter froren ihre Hände daher manchmal an den eiskalten Stäben fest. Da konnte es schon einmal vorkommen, dass von den Händen Hautfetzen abrissen.
Shin erinnert sich, wie einer seiner Mitschüler namens Byun Soon Ho über Fieber und Unwohlsein klagte, worauf sein Wärter ihm eine Lektion in den Vorzügen des Stoizismus erteilte.
»Soon Ho, streck deine Zunge raus«, sagte er zu dem Schüler.
Er befahl dem Jungen, seine Zunge auf ein eiskaltes Moniereisen zu drücken. Es dauerte fast eine Stunde, bis es Soon Ho mit Tränen in den Augen und blutigem Mund gelang, seine Zunge vom Eisen zu lösen.
Die Arbeiten am Damm waren gefährlich, doch für Shin hatten sie auch eine gute Seite. Der Hauptgrund war das
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