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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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Ausland gelebt. Seine Frau hatte gute Beziehungen, und auch Park selbst kannte hochgestellte Persönlichkeiten in der nordkoreanischen Regierung. Der Leiter erteilte Shin den Auftrag, Park zu erklären, wie man die Nähmaschinen reparierte, und sich mit dem Neuling anzufreunden. Er sollte über alles berichten, was Park über seine Vergangenheit, seine Rolle in der Politik und seine Familie erzählte.
    »Park muss die Wahrheit sagen«, erklärte der Leiter. »Er hält uns zum Narren.«
    Im Oktober 2004 verbrachten Shin und Park Tag für Tag 14 Stunden zusammen in der Textilfabrik. Park hörte höflich zu, wenn Shin ihm die Details erklärte, wie die Nähmaschinen gewartet und gelegentlich repariert werden mussten. Ebenso höflich vermied er es, über seine Vergangenheit zu sprechen. Shin konnte darüber so gut wie nichts in Erfahrung bringen.
    Doch dann, nach vierwöchigem Schweigen, überraschte Park Shin mit einer persönlichen Frage.
    »Mein Herr, würden Sie mir bitte sagen, woher Sie kommen?«
    »Woher ich komme? Ich bin hier geboren.«
    »Mein Herr, ich bin aus Pjöngjang«, stellte Park daraufhin fest.
    Park sprach Shin mit koreanischen Höflichkeitsformen an, um zum Ausdruck zu bringen, dass Shin als Lehrer höher stand als er, der nur Lehrling war. Park war ein würdevoller Mann von etwa 45 Jahren, doch die umständlich gewählte Sprache störte und verwirrte Shin.
    »Ich bin jünger als Sie«, sagte er. »Bitte sprechen Sie nicht so ehrerbietig mit mir.«
    »Wenn Sie es wünschen«, entgegnete Park.
    »Und überhaupt«, fragte Shin, »wo ist Pjöngjang?«
    Shins Frage verblüffte Park. Doch der Ältere machte sich über Shins Unwissenheit nicht lustig, sie schien seine Neugier zu wecken. Ausführlich erklärte er ihm, dass Pjöngjang knapp 90 Kilometer südlich vom Lager 14 lag und die Hauptstadt Nordkoreas war, die Stadt, in der alle mächtigen Menschen des Landes wohnten.
    Shins Naivität hatte das Eis gebrochen. Park begann von sich selbst zu sprechen. Er war in einer großen, gut ausgestatteten Wohnung in Pjöngjang aufgewachsen und hatte den privilegierten Bildungsweg der nordkoreanischen Eliten eingeschlagen, zu dem ein Studium in der DDR und der Sowjetunion gehörte. In seine Heimat zurückgekehrt, wurde er Leiter einer Taekwondo-Schule in Pjöngjang. In dieser prominenten Position hatte er viele Männer kennengelernt, die Nordkorea regierten.
    Während er seine ölverschmierte rechte Hand auf eine Nähmaschine legte, sagte er: »Mit dieser Hand habe ich Kim Jong Ils Hand geschüttelt.«
    Park hatte die Figur eines Athleten. Seine Hände waren groß und fleischig. Er war beeindruckend stark, wenngleich er einen leichten Bauchansatz hatte. Doch was Shin noch mehr beeindruckte, war sein Anstand. Er gab Shin nicht das Gefühl, dumm zu sein, sondern versuchte vielmehr geduldig, ihm zu erklären, was ein Leben außerhalb des Lagers 14 bedeutete – und ein Leben außerhalb Nordkoreas. So begann ein monatelanges Seminar zwischen Lehrer und Schüler, das Shins Leben für immer veränderte.
    Während sie in der Fabrikhalle unterwegs waren, erzählte Park Shin, dass das riesige Land jenseits der Grenze China hieß, dessen Bevölkerung schnell reich werde. Und er sprach von einem zweiten Korea im Süden, dort waren heute schon alle reich. Park erklärte Shin den Begriff des Geldes. Er machte ihn mit der Existenz von Fernsehgeräten, Computern und Handys vertraut. Er erklärte ihm, dass die Erde eine Kugel ist. Ein Großteil von dem, worüber Park sprach, zumal am Anfang ihrer Bekanntschaft, war für Shin sehr schwer zu verstehen, zu glauben oder als interessant zu empfinden. Was ihm Freude machte – was Park ihm gar nicht oft genug erzählen konnte –, waren Geschichten über Nahrung und Essen, vor allem, wenn der Hauptgang aus gegrilltem Fleisch bestand. Sie hielten ihn nachts wach, wenn er sich in ein besseres Leben fantasierte.
    Zu einem Teil lag die Faszination solcher Themen an der Erschöpfung durch die Fabrikarbeit. Die Mahlzeiten waren mager, die Arbeitsstunden endlos, und Shin war ständig hungrig. Aber es gab noch etwas anderes – etwas, das in Shins Erinnerung seit seinem 13. Lebensjahr begraben lag, als er sich im unterirdischen Gefängnis langsam von seinen Brandwunden erholte: Sein alter Zellengenosse hatte seine Vorstellungskraft mit Geschichten von herzhaften Speisen beflügelt. Onkel hatte Shin angestachelt, von einem Tag zu träumen, an dem er das Lager verlassen und alles essen würde,

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