Flucht aus Lager 14
14
Vorbereitungen
Ihr Plan war einfach – und über alle Maßen optimistisch.
Shin kannte das Lager, Park kannte die Welt. Shin würde sie über den Zaun bringen, Park nach China, wo sie bei seinem Onkel Unterkunft, Geld und Unterstützung bei der Reise nach Südkorea erhalten würden.
Shin hatte als Erster den Vorschlag gemacht, gemeinsam auszubrechen. Doch bevor er die Idee aussprach, trug er tagelang die Befürchtung mit sich herum, dass Park doch ein Spitzel sein könnte, dass man ihm eine Falle stellte, dass er ebenso hingerichtet werden würde wie seine Mutter und sein Bruder. Selbst nachdem Park sich für die Idee erwärmt hatte, war Shins Paranoia schwer zu erschüttern: Er hatte die eigene Mutter an den Galgen geliefert; warum sollte Park es anders mit ihm machen?
Nach und nach überwand Shins Begeisterung seine Befürchtungen. Aufgedreht wachte er morgens auf, nachdem er die ganze Nacht von gegrilltem Fleisch geträumt hatte. Nähmaschinen treppauf und treppab zu schleppen ermüdete ihn nicht mehr. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Shin etwas, dem er erwartungsvoll entgegensehen konnte.
Da Park die Anweisung hatte, sich stets in Shins Nähe aufzuhalten, wurde jeder Arbeitstag zu einer Marathonsitzung geflüsterter Fluchtvorbereitungen und motivierender Geschichten über die wunderbaren Speisen, die sie in China erwarteten. Für den Fall, dass Wärter sie am Zaun entdeckten, so beschlossen sie, würde Park sie mit Taekwondo kampfunfähig machen. Obwohl die Wärter automatische Waffen hatten, redeten sich Shin und Park gegenseitig ein, dass sie gute Chancen hätten, nicht entdeckt und getötet zu werden.
Diese Erwartungen waren in jeder Hinsicht absurd. Bisher war es, nach allem, was man weiß, noch keinem gelungen, aus dem Lager 14 auszubrechen. Überhaupt sind nur zwei weitere Fälle bekannt, in denen jemand aus einem der politischen Lager Nordkoreas geflohen und später in den Westen gelangt ist. Einer von ihnen ist (der bereits erwähnte) ehemalige Oberstleutnant Kim Yong, der in ganz Nordkorea hochgestellte Freunde hatte. Aber er überwand keinen Hochspannungszaun, er konnte dank einer »absolut unglaublichen Chance« fliehen, wie er später schrieb. 1999, während der Hilflosigkeit der Regierung und des Versagens der Geheimdienste, die den Gipfel der Hungersnot in Nordkorea kennzeichneten, versteckte er sich unter einer Blechtafel, die sich schräg im Boden eines maroden Güterwagens verkeilt hatte, während der Waggon mit Kohlen beladen wurde. So rollte Kim, der sich in Nordkorea gut auskannte, mit dem Güterzug aus dem Lager 18 und nutzte seine persönlichen Kontakte an der Grenze dazu, um sicher nach China zu gelangen.
Der zweite Flüchtling war Kim Hye Sook, die ebenfalls aus dem Lager 18 ausbrach. Zusammen mit ihrer Familie wurde sie 1975 als 13-Jährige dort interniert. Die Behörden entließen sie zwar 2001, brachten sie aber später ins Lager zurück. 2009 gelang ihr dann die Flucht, die sie über China, Laos und Thailand schließlich nach Südkorea führte.
Beide waren aus einem Lager geflohen, das nicht annähernd so streng bewacht wurde wie das Lager 14. Wie Kim Yong in seinen Erinnerungen Long Road Home schrieb, wäre es ihm niemals gelungen, aus dem Lager 14 zu fliehen, weil »die dortigen Wärter sich benahmen, als befänden sie sich im Krieg«. 21 Bevor Kim in das Lager eingeliefert wurde, aus dem er dann ausbrach, verbrachte er zwei Jahre im Lager 14. Er schilderte die dortigen Verhältnisse als »so streng, dass ich nicht einmal die Möglichkeit (einer Flucht) erwog«.
Shin und Park hatten keine Möglichkeit, die Chancen eines Ausbruchs oder einer sicheren Route nach China einzuschätzen. Doch Park neigte dazu, den Rundfunksendungen aus Seoul zu vertrauen, die er während seines Aufenthalts in China gehört hatte. In diesen Berichten ging es um die Fehlschläge und Schwächen der nordkoreanischen Regierung. Park erzählte Shin, dass die Vereinten Nationen begonnen hätten, Verletzungen der Menschenrechte in den politischen Zwangsarbeitslagern in Nordkorea anzuprangern. Außerdem hatte er gehört, dass die Lager in absehbarer Zeit aufgelöst würden. 22
Obwohl Park viel in Nordkorea und China herumgekommen war, gestand er Shin, dass er wenig über die steilen, verschneiten und dünn besiedelten Berge außerhalb des Lagers wusste. Und er wusste auch kaum etwas über die Straßen, auf denen siesicher nach China gelangen könnten.
Shin war zwar aus zahllosen Tagen, an denen
Weitere Kostenlose Bücher