Flucht aus Lager 14
unerwartet einen Besuch ab. Zwei von ihnen waren den Häftlingen nicht bekannt, und Shin glaubte, dass sie von außerhalb des Lagers gekommen waren.
Als die Versammlung beendet war, sagte der Chef der vier, er wolle noch über die Läuseplage sprechen, ein chronisches Problem in den Lagern. Er forderte die anwesenden Häftlinge auf, sich zu melden, wenn sie von Läusen befallen seien.
Ein Mann und eine Frau, Sprecher in ihren jeweiligen Schlafräumen, meldeten sich. Sie sagten, die Läuse nähmen in ihren Räumen überhand. Die Wärter gaben beiden einen Eimer mit einer milchigen Flüssigkeit, die für Shin genauso roch wie die Chemikalien zur Schädlingsbekämpfung auf den Feldern.
Um ihre Wirksamkeit im Kampf gegen die Läuse zu demonstrieren, forderten die Wärter fünf Männer und fünf Frauen in jedem befallenen Schlafraum auf, sich mit der Flüssigkeit zu waschen. Shin und Park hatten natürlich ebenfalls Läuse, doch sie bekamen nicht die Gelegenheit, die Flüssigkeit anzuwenden.
Innerhalb einer Woche hatten alle zehn Häftlinge, die sich mit der Flüssigkeit behandelt hatten, Geschwüre auf der Haut. Einige Wochen später begann ihre Haut zu faulen und sich abzulösen. Sie hatten hohes Fieber und waren arbeitsunfähig. Shin sah bald darauf einen Lastwagen vor der Fabrik vorfahren, und er beobachtete, wie die kranken Häftlinge mit dem Lastwagen davonfuhren. Er hat sie nie wiedergesehen.
Es war zu dieser Zeit, Mitte Dezember 2004, als Shin beschloss, es sei genug. Er begann über eine Flucht nachzudenken.
Park war es, der Shin dahin gebracht hatte. Er änderte die Art und Weise, wie Shin anderen Menschen begegnete. Ihre Freundschaft beendete ein lebenslanges Muster von Misstrauen und Verrat.
Shin war nicht länger ein Geschöpf seiner Häscher. Er war überzeugt, einen Menschen gefunden zu haben, der ihm helfen würde zu überleben.
Ihr Verhältnis erinnerte in mancher Hinsicht an den gegenseitigen Schutz und die vertrauensvollen Beziehungen, die in den deutschen Konzentrationslagern die Häftlinge am Leben und bei Verstand hielten. In diesen Lagern war das Paar die »grundlegende Einheit des Überlebens«. »Es waren die Paare, dank deren die Häftlinge die äußere Form der Menschlichkeit bewahren konnten.« Zu diesem Schluss gelangte Elmer Luchterhand, ein amerikanischer Soziologe an der Yale-Universität, der 52 Überlebende von Konzentrationslagern kurz nach der Befreiung befragt hatte. 17
Paare stahlen Lebensmittel und Kleidung füreinander, tauschten kleine Geschenke aus und planten für die Zukunft. Wenn einer von beiden vor einem SS -Mann vor Hunger zu Boden sank, half der andere ihm wieder auf die Beine.
»Das Überleben … konnte nur eine soziale Leistung sein, kein individueller Zufall«, schrieb Eugene Weinstock, ein belgischer Widerstandskämpfer und in Ungarn geborener Jude, der 1943 nach Buchenwald verschleppt wurde. 18
Häufig hatte das Ableben einer Hälfte des Paars auch den Tod der anderen zur Folge. Frauen, die Anne Frank in Bergen-Belsen gekannt hatten, erzählten nach dem Krieg, dass weder Hunger noch Typhus das junge Mädchen getötet hätten, das später mit seinem Tagebuch in der ganzen Welt zu einem Begriff wurde. Erst nach dem Tod ihrer Schwester Margot habe sie jeden Lebenswillen verloren. 19
Ebenso wie in den deutschen Konzentrationslager dienen in den Zwangsarbeitslagern in Nordkorea das Eingesperrtsein, der Essensentzug und die Angst dazu, eine Art Skinner-Box zu erzeugen, einen abgeschlossenen, streng überwachten Raum, in dem die Wärter die absolute Kontrolle über die Häftlinge haben. 20 Doch während das Vernichtungslager Auschwitz nur drei Jahre existierte, ist das Lager 14 eine 50 Jahre alte Skinner-Box, ein fortdauerndes Experiment der Unterdrückung und Gehirnwäsche, in dem die Wärter sogar Häftlinge zeugen lassen und sie von Geburt an kontrollieren, isolieren und gegeneinander ausspielen.
Das Wunder der Freundschaft zwischen Shin und Park liegt darin, wie schnell sie die Box gesprengt hat.
Parks Mut, seine Würde und seine elektrisierenden Informationen gaben Shin etwas, das fesselnd und zugleich unerträglich war: einen Zusammenhang, eine Möglichkeit, von der Zukunft zu träumen.
Plötzlich verstand er, wo er war und was ihm fehlte.
Das Lager 14 war nicht länger sein Zuhause. Es war ein scheußlicher Käfig.
Und Shin hatte jetzt einen weit gereisten, breitschultrigen Freund, der ihm helfen würde, hier herauszukommen.
KAPITEL
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