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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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war nach der unerbittlichen Arithmetik der Beziehungen zwischen Vätern und aufbegehrenden Söhnen Grund genug für Shins Abscheu.
    Sie teilten ein einsilbiges Neujahrsessen aus Maisbrei und Kohlsuppe in einem Speisesaal an der Arbeitsstelle des Vaters. Shin erzählte nichts von seinem Fluchtplan. Auf dem Weg zu ihm hatte er sich noch einmal klar gemacht, dass jegliches Anzeichen von Gefühlen, jede Andeutung eines endgültigen Abschieds das Vorhaben gefährden könnte. Er vertraute seinem Vater nicht vorbehaltlos.
    Nach der Hinrichtung seiner Frau und seines älteren Sohnes hatte Shins Vater sich bemüht, dem jüngeren Sohn mehr Beachtung zu schenken. Er hatte um Entschuldigung dafür gebeten, dass er ein schlechter Vater war und dass er ihn der Rohheit des Lagers ausgesetzt hatte. Er hatte Shin sogar ermutigt, »sich die Welt anzuschauen«, sollte er je die Gelegenheit dazu erhalten. Das konnte man als Ermunterung zur Flucht verstehen, war aber vermutlich so vage formuliert, weil der Vater seinem Sohn ebenfalls nicht traute.
    Nachdem man Shin der Kleiderfabrik zugeteilt hatte, wo sich kaum Möglichkeiten boten, zusätzliches Essen zu finden oder zu stehlen, hatte sein Vater die außerordentliche Mühe auf sich genommen, für ihn etwas Reismehl zu ergattern und es als väterliches Geschenk darzubieten. Aber Shin hatte sich geweigert, es anzunehmen, obwohl er großen Hunger hatte.
    Als sie nun am Neujahrstag im Speisesaal einander gegenübersaßen, sprach keiner der beiden das Geschenk an, und als Shin sich wieder auf den Weg machte, gab es keinen besonderen Abschied. Er rechnete damit, dass die Wärter nach der Entdeckung der Flucht seinen Vater erneut in das unterirdische Gefängnis bringen würden. Er war sich ziemlich sicher, dass sein Vater keine Ahnung davon hatte, was ihn erwartete.

KAPITEL 15
    Der Zaun
    Früh am nächsten Morgen trieb ein Vorarbeiter aus der Textilfabrik Shin, Park und rund 25 weitere Häftlinge den Berg hinauf. Sie machten sich in der Nähe der Kuppe eines etwa 350 Meter langen Abhangs an die Arbeit. Der Himmel war klar, und die Sonne schien hell auf eine große Schneefläche, aber es war kalt, und es wehte ein kräftiger Wind. Einige der Häftlinge benutzten Beile, um die Äste der bereits gefällten Bäume abzuschlagen, während andere das Holz aufschichteten.
    Die Einteilung zum Brennholzsammeln war ein außerordentlich glücklicher Zufall. Shin und Park arbeiteten einen Steinwurf vom Zaun entfernt, der auf dem Bergrücken verlief. Jenseits des Zauns fiel das Terrain steil ab, jedoch nicht so steil, dass man es zu Fuß nicht hätte passieren können. Nicht weit dahinter sah man ein schützendes Dickicht aus Bäumen.
    Etwa 400 Meter nördlich der Stelle, an der die Häftlinge Holz hackten, stand ein Wachtturm am Zaun. Wächter patrouillierten zu zweit auf der Innenseite des Zauns. Shin beobachtete, dass die Kontrollgänge in großem zeitlichem Abstand erfolgten.
    Der Vorarbeiter des Trupps war ebenfalls ein Häftling und deshalb unbewaffnet. In den Intervallen zwischen den Patrouillen gab es niemanden, der auf Shin und Park hätte schießen können. Sie hatten zuvor beschlossen, bis zur Dämmerung abzuwarten, weil es dann für die Wächter schwieriger sein würde, ihre Fußspuren im Schnee zu verfolgen.
    Während Shin arbeitete und abwartete, ging es ihm durch den Kopf, dass die anderen Häftlinge gar nicht an den Zaun und die Möglichkeiten dachten, die sich dahinter boten. Sie erschienen ihm wie Kühe, die sich, in wiederkäuender Passivität verharrend, mit ihrem Leben ohne Perspektive abgefunden hatten. Er war wie sie gewesen, bis er Park kennengelernt hatte.
    Gegen vier Uhr nachmittags, als es zu dämmern begann, schlichen Shin und Park zum Zaun und schnitten dabei immer wieder Äste ab. Niemand schien sie zu beachten.
    Nach kurzer Zeit befand sich Shin in unmittelbarer Nähe zum Zaun, der etwa drei Meter hoch war. Unmittelbar vor sich sah er eine kniehohe Schneewehe und dahinter einen Pfad, den die Patrouillen in den Schnee getreten hatten. Dahinter befand sich ein glatt geharkter Streifen, der Fußabdrücke verriet, falls sich ein Häftling dem Zaun näherte. Und dahinter war der Zaun, der aus sieben bis acht mit Stacheln versehenen Drähten bestand, die unter Hochspannung standen und in einem Abstand von jeweils gut 30 Zentimetern an hohen Pfosten befestigt waren.
    Einige der Arbeitslager in Nordkorea sind außer mit einem Zaun zusätzlich mit spießbewehrten Gräben gesichert, so

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