Flucht aus Lager 14
er Holz und Eicheln gesammelt hatte, die Anlage des Lagers gut vertraut, doch hatte er keine Ahnung, wie man den Hochspannungszaun überwinden könnte, der das Lager sicherte. Auch wusste er nicht, ob eine Berührung des Zauns tödlich war, obwohl er sich Sorgen darüber machte.
Nicht zuletzt gelang es ihm nicht, die Gedanken an seine Mutter und seinen Bruder völlig zu verscheuchen. Es war nicht Schuld, die ihn umtrieb, es war Angst. Er fürchtete, denselben Tod zu erleiden, wie sie ihn erlitten hatten. Immer wieder sah er vor seinem inneren Auge Bilder der Hinrichtung. Er sah sich selbst vor dem Peloton oder auf einer Holzkiste mit einer Schlinge um den Hals.
Aber in einer Kalkulation, die sich wenig auf Informationen, dafür umso mehr auf Wunschdenken stützte, rechnete er sich aus, dass sie eine 90-prozentige Chance hätten, durch den Zaun zu kommen, und eine 10-prozentige, erschossen zu werden.
Shins hauptsächliche Vorbereitung zur Flucht bestand darin, einem anderen Häftling warme Kleidung und gutes Schuhwerk zu stehlen.
Jener Häftling schlief im selben Schlafsaal wie Shin und arbeitete in der Textilfabrik als Zuschneider, eine Arbeit, die es ihm erlaubte, Stoffreste zu sammeln, die er gegen Nahrung und andere Artikel eintauschte. Außerdem achtete er sorgfältig auf seine Kleidung. Er war der Einzige im Lager, der über eine zweite Garnitur Winterkleidung und ein zweites Paar Schuhe verfügte.
Shin hatte bis dahin niemals die Kleidung eines Mithäftlings gestohlen. Doch seitdem er sich entschlossen hatte, seine Mithäftlinge nicht mehr zu denunzieren, konnte er Häftlinge, die regelmäßig andere Häftlinge anschwärzten, immer weniger ausstehen. Vor allem verachtete er den Zuschneider, weil er jeden denunzierte, der sich Gemüse aus dem Garten der Fabrik genommen hatte. Shin war der Meinung, dass der Zuschneider es verdient habe, wenn man ihn beklaute.
Da die Häftlinge keine abschließbaren Spinde oder andere Möglichkeiten der Sicherung ihrer Habseligkeiten hatten, war es für Shin ein Leichtes, einen Augenblick abzuwarten, wenn der Zuschneider den Schlafsaal verließ, und sich dann Kleidung und Schuhe zu nehmen und bis zur Flucht zu verstecken. Shin geriet nicht in Verdacht, als der Diebstahl aufflog. Die gestohlenen Schuhe passten Shin zwar nicht (die meisten Häftlinge trugen Schuhe, die ihnen nicht passten), aber sie waren wenigstens ziemlich neu.
Kleidung wurde im Lager nur alle sechs Monate ausgegeben. Gegen Ende Dezember, als Shin und Park ihre Flucht vorbereiteten, hatten Shins Hosen Löcher auf der Sitzfläche und an den Knien. Als der entscheidende Tag näher kam, beschloss Shin, seine zerschlissene Kleidung unter der gestohlenen zu tragen. Er besaß weder einen Mantel noch eine Mütze oder Handschuhe, die ihn vor der bitteren Kälte hätten schützen können.
Zur Realisierung des Fluchtplans gehörte auch, dass beide zu einer Arbeit außerhalb der Fabrik eingeteilt werden mussten, was ihnen einen Vorwand bot, sich in der Nähe des Zauns aufzuhalten.
Ihre Chance kam an Neujahr, einem der seltenen Feiertage, an denen die Maschinen in der Fabrik für zwei Tage stillstanden. Shin erfuhr Ende Dezember, dass am 2. Januar, dem zweiten Tag der Pause, sein Trupp von Reparaturarbeitern sowie einige Näherinnen zu einer Hügelkette am östlichen Rand des Lagers eskortiert werden würden. Dort sollten sie einen Tag lang Bäume stutzen und Holz stapeln.
Shin kannte diese Stelle von früher. Sie lag in der Nähe des Zauns, der den Hügelkamm entlangführte. Nachdem er Park davon erzählt hatte, stimmte dieser zu, die Flucht am 2. Januar 2005 zu wagen.
Als die Fabrik am 1. Januar geschlossen wurde, beschloss Shin, wenngleich mit einem gewissen Widerwillen, seinen Vater ein letztes Mal zu besuchen.
Ihre Beziehung, die immer sehr distanziert gewesen war, hatte sich im Lauf der Zeit noch weiter abgekühlt. An den wenigen Tagen, an denen Shin auf der Farm oder später in der Fabrik nicht arbeiten musste, hatte er nur selten von den Lagerregeln Gebrauch gemacht, die es ihm gestattet hätten, seinen Vater aufzusuchen. Zeit mit seinem Vater zu verbringen war ihm zu einer Qual geworden.
Was Shin an seinem Vater so ärgerte, war ihm selbst nicht klar. Es war seine Mutter und nicht sein Vater gewesen, die sein Leben durch ihren Fluchtplan in Gefahr gebracht hatte. Sein Vater hatte ebenfalls darunter zu leiden gehabt. Doch sein Vater war am Leben und bemühte sich um eine Versöhnung mit Shin. Das allein
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