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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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auf das er Lust hätte. Freiheit war in Shins Vorstellung einfach ein anderes Wort für gegrilltes Fleisch.
    Onkel hatte in Nordkorea gut gegessen, aber Parks geschmackliche Abenteuer waren global. Er schilderte die Offenbarungen von Hühner-, Schweine- und Rindfleisch in China, Hongkong, Deutschland, England und der ehemaligen Sowjetunion. Je länger Shin diesen Geschichten lauschte, desto stärker wurde sein Wunsch, das Lager zu verlassen. Er schmachtete nach einer Welt, in der eine so unbedeutende Person wie er ein Restaurant betreten und sich an Reis und Fleisch satt essen konnte. In seiner Fantasie brach er zusammen mit Park aus dem Lager aus, weil er wie Park essen wollte.
    Euphorisiert durch das, was er von dem Häftling hörte, den er denunzieren sollte, traf Shin die vielleicht erste freie Entscheidung seines Lebens. Er beschloss, Park nicht zu hintergehen.
    Dies bedeutete eine tief greifende Veränderung seiner Überlebensstrategie. Denn nach seiner bisherigen Erfahrung lohnte es sich, andere zu denunzieren. Es bewahrte ihn davor, wie seine Mutter und sein Bruder hingerichtet zu werden, und war möglicherweise der Grund dafür gewesen, dass sein zweiter Lehrer dafür gesorgt hatte, dass er genug zu essen bekam, dass die anderen Schüler ihn fortan in Ruhe ließen und dass er eine leichte Arbeit in der Schweinefarm bekommen hatte.
    Shins Entschluss, Parks Vertrauen nicht zu missbrauchen, war freilich noch kein Anzeichen dafür, dass sich seine Vorstellungen darüber geändert hatten, was richtiges und falsches Handeln war. In der Rückschau sieht Shin seine Motive als grundlegend egoistisch. Wenn er Park denunzierte, so seine damalige Überlegung, würde er vielleicht eine Extraportion Kohl bekommen. Vielleicht würde man ihn zum Vorarbeiter befördern mit einem besonderen Freibrief, den Näherinnen nachzustellen.
    Doch das, was Park ihm zu erzählen hatte, war weitaus wertvoller für ihn. Seine Geschichten waren zu einer unentbehrlichen und kraftspendenden Droge geworden, die seine Erwartungen an die Zukunft veränderte und in ihm den Willen weckte, für sie zu planen. Es kam ihm so vor, als müsse er verrückt werden, wenn Park ihm nicht weitere Geschichten erzählte.
    In seinen Berichten an den Fabrikleiter fand Shin für sich selbst eine wunderbar befreiende Lüge. Jedes Mal schrieb er, Park habe nichts gesagt.
    Zehn Jahre zuvor, im unterirdischen Gefängnis, hatte sein alter Zellengenosse ihm vom Essen außerhalb des Lagers erzählt, doch nie von sich selbst oder seiner politischen Einstellung. Onkel war auf der Hut gewesen, argwöhnisch und zurückhaltend. Er vermutete, dass Shin ein Informant war, und traute ihm nicht. Shin nahm daran keinen Anstoß. Für ihn war es normal. Vertrauen war eine sichere Methode, erschossen zu werden.
    Park hingegen verlor nach seiner anfänglichen Zurückhaltung seinen Argwohn. Offenbar in der Meinung, Shin sei ebenso vertrauenswürdig wie unwissend, erzählte Park ihm seine Lebensgeschichte.
    Park verlor seine Stellung als Leiter der Taekwondo-Schule in Pjöngjang 2002 nach einer Auseinandersetzung mit einem Funktionär der mittleren Ebene, der ihn daraufhin anscheinend weiter oben in der Regierungshierarchie denunzierte. Nachdem er arbeitslos geworden war, fuhr Park mit seiner Frau nach Norden an die Grenze, wo sie illegal in China einreisten und 18 Monate lang bei einem seiner Onkel wohnten.
    Während seiner Zeit in China hörte Park täglich Rundfunkmeldungen aus Südkorea. Sein besonderes Interesse galt Berichten über Hwang Jang Yop, einen Vordenker der nordkoreanischen Ideologie und ranghöchsten Parteiführer, der aus dem Land geflohen war. Nach seiner Flucht nach Südkorea 1997 wurde er in Seoul eine Berühmtheit.
    Park erklärte Shin, dass Hwang Kim Jong Il kritisiert hatte, weil er aus Nordkorea einen korrupten Feudalstaat gemacht habe. (Kims Regierung befahl im Jahr 2010 Agenten, Hwang zu ermorden. Diese wurden jedoch in Seoul verhaftet, und Hwang starb im selben Jahr mit 87 Jahren eines natürlichen Todes.)
    Park verließ China, um im Sommer 2003 gemeinsam mit seiner Frau und einem kleinen Sohn, der in China geboren worden war, nach Nordkorea zurückzukehren. Er wollte rechtzeitig wieder in Pjöngjang sein, um sich an den Wahlen im August zur Obersten Volksversammlung, dem Akklamationsorgan Nordkoreas, zu beteiligen.
    Die Wahlen in Nordkorea sind leere Rituale. Die Kandidaten werden von der Koreanischen Arbeiterpartei ausgewählt, eine Opposition gibt es

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