Flucht aus Lager 14
eine Brücke über den Taedong und wandte sich nach Osten auf einer Straße, die am Fluss entlanglief. Er versteckte sich vor den Scheinwerfern, als sich einmal ein Auto näherte. Dann kletterte er auf einen Schienenstrang, der anscheinend nicht befahren wurde, und ging weiter.
Bis zum späten Abend hatte er etwa zehn Kilometer hinter sich gebracht und erreichte den Stadtrand von Bukchang, einer Bergbaustadt unmittelbar südlich des Flusses mit einer Bevölkerung von etwa 10000 Einwohnern. Einige Fußgänger befanden sich noch auf den Straßen, doch Shin hatte nicht das Gefühl, dass sein Anblick Aufmerksamkeit erregte. Mit einer Aluminiumfabrik, Kohlenbergwerken und einem großen Elektrizitätswerk war die Stadt vielleicht daran gewöhnt, dass Schichtarbeiter zu jeder Tages- und Nachtzeit auf den Straßen unterwegs waren.
Shin sah einen Schweinekoben, ein vertrauter und beruhigender Anblick. Er kletterte über einen Zaun, fand etwas Reisstroh und richtete sich ein für die Nacht.
Während der folgenden beiden Tage suchte er in den Randbezirken der Stadt nach Abfällen und aß alles, was er auf dem Boden oder in Mülleimern finden konnte. Er wusste nicht, was er tun oder wohin er gehen sollte. Die Menschen auf der Straße schienen ihn zu ignorieren. Seine Beine schmerzten, und er war hungrig und fror. Aber er war in guter Stimmung. Er fühlte sich wie ein Wesen von einem anderen Stern, das auf die Erde gefallen war.
In den Monaten und Jahren, die jetzt vor Shin lagen, würde er viele Dinge entdecken: Online-Videos, Blogs und den internationalen Flugverkehr. Therapeuten und Berufsberater würden sich seiner annehmen, Prediger ihm zeigen, wie man zu Jesus Christus betet, und Freunde ihm beibringen, wie man Zähne putzt, eine Kreditkarte benutzt und was man mit einem Smartphone alles anstellen kann. Von der Erfindung des elektronischen Buchs bis zur Politik, Geschichte und Geografie Nord- und Südkoreas, Chinas, Europas und der Vereinigten Staaten würde er alles kennenlernen.
Doch nichts von alledem hat mehr dazu beigetragen, sein Verständnis vom Lauf der Welt – und der Art und Weise, wie sich Menschen untereinander verhalten – zu ändern als seine ersten Tage außerhalb des Lagers.
Völlig konsterniert sah er zu, wie Nordkoreaner ihr tägliches Leben führten, ohne dazu Befehle von Wärtern entgegenzunehmen. Wenn sie die Kühnheit besaßen, gemeinsam auf der Straße zu lachen, leuchtend bunte Kleidung zu tragen oder auf einem Markt unter freiem Himmel den Preis auszuhandeln, rechnete er jeden Augenblick damit, dass bewaffnete Männer kommen und einschreiten, sie auf den Kopf schlagen und dem verrückten Treiben ein schnelles Ende bereiten würden.
Das Wort, das Shin immer und immer wieder gebrauchte, um diese ersten Tage zu beschreiben, war »Schock«.
Es spielte für ihn keine Rolle, dass Nordkorea im tiefen Winter hässlich, schmutzig und dunkel war oder dass es ärmer war als der Sudan oder dass Menschenrechtsgruppen das Land als Ganzes genommen als das größte Gefängnis der Welt ansehen.
Er hatte 23 Jahre in einem Freiluftkäfig verbracht, in dem Männer mit Willkür, Folter, Morden, Hinrichtungen und der Pflicht zur Denunziation über die Gefangenen herrschten.
Er fühlte sich wunderbar frei – und soweit er es beurteilen konnte, gab es niemanden, der nach ihm suchte.
Trotz allem war er schwach vor Hunger, und während er die Straßen entlanglief, hielt er Ausschau nach einem unbewohnten Haus, in dem er essen und sich ausruhen konnte. Er fand eines am Ende einer kleinen Straße. Auf der Rückseite befand sich ein Fenster aus Vinyl, das er gewaltsam öffnete und durch das er einstieg.
In der Küche fand er drei Schüsseln mit gekochtem Reis. Er vermutete, dass die Person, die ihn gekocht hatte, bald zurückkehren würde. Da es ihm zu gefährlich schien, den Reis an Ort und Stelle zu essen oder gar im Haus zu schlafen, füllte er den Reis in eine Plastiktüte. Von der Sojabohnenpaste, die er in einem Regal entdeckte, rührte er ein paar Löffel mit hinein.
Als er die übrigen Räume des Hauses durchsuchte, fand er eine winterfeste Hose, die über einem Bügel hing, und ein Paar Schuhe. Dazu einen Rucksack und einen dunkelbraunen Wintermantel im Militärstil, der wärmer war als alle Mäntel, die er je getragen hatte. Er öffnete noch eine letzte Küchenschublade und fand darin einen Sack mit fünf Kilogramm Reis, den er ebenfalls im Rucksack verstaute, bevor er das Haus wieder verließ.
Nahe
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