Flucht aus Lager 14
Flüchtlinge, die zu arm und zu unglücklich sind, um sich den Weg nach Norden durch Bestechung frei zu machen.
Ein Trend zeichnet sich allerdings deutlich ab: Die Zahl der Nordkoreaner, die in Südkorea um Asyl bitten, ist seit 1995 Jahr für Jahr angestiegen. Waren es 1995 noch 41 Flüchtlinge, so betrug ihre Zahl 2009 knapp 3000. Die Zahl der in Südkorea eintreffenden Flüchtlinge zwischen 2005 und 2011 war höher als die der Flüchtlinge aus Nordkorea während des gesamten Zeitraums zwischen dem Ende des Koreakriegs 1953 und 2005.
Als Shin im Januar 2005 seine Wanderung zur Grenze nach China begann, waren die Bedingungen für eine Flucht offensichtlich relativ günstig. Ein Anhaltspunkt hierfür ist die große Zahl von Nordkoreanern – rund 4500 – , denen es in den Jahren 2006 und 2007 gelungen ist, sich nach Südkorea durchzuschlagen. In der Regel dauerte diese Wanderung mit dem Umweg über China ein bis zwei Jahre.
Die Durchlässigkeit der nordkoreanischen Grenze nimmt tendenziell zu, sobald die Grenzwächter und die Lokalbehörden Schmiergeld annehmen können, ohne drakonische Strafen von höheren Beamten fürchten zu müssen.
»Mehr denn je spielt Geld eine Rolle«, war die Erklärung Chun Ki-wons, eines Geistlichen in Seoul, von dem ich erfuhr, dass er zwischen 2000 und 2008 mehr als 600 Nordkoreanern geholfen hatte, nach China und von dort aus nach Südkorea zu gelangen.
Zu der Zeit, als Shin unter dem Elektrozaun hindurch in die Freiheit kroch, gab es bereits ein gut funktionierendes Netz von Menschenschmugglern, deren Fühler bis tief nach Nordkorea hineinreichten. Chun und mehrere andere Agenten erzählten mir, wenn genügend Geld da war, konnten sie praktisch jeden Nordkoreaner außer Landes bringen.
Auf dem Weg der Mundpropaganda boten Vermittler in Seoul »geplante Fluchtunternehmungen« an. Eine preiswerte Version kostete weniger als 2000 Dollar. Damit verbunden waren monate- oder jahrelange Reisen durch China, über Thailand oder Vietnam nach Seoul. Wer diese Variante wählt, muss tückische Flüsse überqueren, sich mühsam zu Fuß fortbewegen und wochenlang in einem thailändischen Durchgangslager ohne sanitäre Anlagen warten.
Eine Flucht erster Klasse inklusive gefälschtem chinesischem Pass und einem Flugticket von Peking nach Seoul ist für mindestens 10000 Dollar zu haben. Nach Auskunft von Vermittlern und Flüchtlingen kann eine solche Fluchtaktion vom Start bis zum Ziel nach bereits drei Wochen abgeschlossen sein.
Pfarrer der südkoreanischen Kirchen entwickelten das Fluchtgeschäft Ende der neunziger Jahre und warben danach Agenten für die Grenzübertritte an, die die Grenzwachen mit Bargeld schmierten, das von Gemeindemitgliedern in Seoul gespendet wurde. Als Shin sich auf den Weg nach China machte, hatten Flüchtlinge, darunter viele ehemalige Angehörige der nordkoreanischen Armee und Polizeibeamte, das Geschäft selbst in die Hand genommen und betrieben profitorientierte Fluchtoperationen.
Diese neue Generation von Mittelsmännern erhielt häufig Vorschüsse in bar von gut betuchten südkoreanischen Familien, die sich um die Freilassung eines Verwandten bemühten. Manchmal akzeptierten sie eine Ratenzahlung und verzichteten auf einen Vorschuss von einem Flüchtling oder seinen Angehörigen. Wenn ein Flüchtling, der eine Ratenzahlung vereinbart hatte, dann in Seoul eintraf und Zugang zu einem Teil der über 40000 Dollar bekam, die von der südkoreanischen Regierung für Neuankömmlinge aus Nordkorea bereitgestellt werden, verlangten die Vermittler wesentlich mehr, als ursprünglich vereinbart worden war.
»Mein Chef ist bereit, das Geld vorzuschießen, das zum Schmieren der Grenzwächter nötig ist, damit sie jemanden durchlassen«, sagte ein in Seoul ansässiger Vermittler und ehemaliger nordkoreanischer Offizier, der für eine Schmugglerorganisation mit Sitz in China arbeitete. »Aber wenn Sie dann in Seoul eingetroffen sind, müssen Sie für diesen Service das Doppelte bezahlen.«
Bis 2008 waren viele nordkoreanische Flüchtlinge bei den Schmugglern so tief verschuldet, dass die südkoreanische Regierung den Modus der finanziellen Unterstützung änderte. Anstelle von Einmalzahlungen wird das Geld nun über einen längeren Zeitraum hinweg ausgezahlt mit besonderen Anreizen für diejenigen, die eine feste Anstellung gefunden haben. Etwa ein Viertel des Geldes wird direkt für die Unterkunft einbehalten. So wird verhindert, dass das Geld an den Vermittler geht.
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