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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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können.
    Überlandreisen in Nordkorea waren früher einmal unmöglich gewesen ohne eine Reiseerlaubnis, die einen Stempel trug oder in eine »Bürgerurkunde« eingeheftet war, ein Dokument von der Größe eines Passes nach dem Muster des früheren sowjetischen Personalausweises.
    Den in Lagern aufgewachsenen Häftlingen wie Shin wurden grundsätzlich keine Personalausweise ausgehändigt. Für Nordkoreaner, die keine Ausweise besaßen, war die Beschaffung einer Reisegenehmigung extrem schwierig. Ausgestellt wurde sie in der Regel an Personen, deren Beruf bestimmte Reisen nötig machte, oder an Personen, die einen wichtigen familiären Anlass geltend machten, der von einer Behörde bestätigt wurde, etwa eine Hochzeit oder eine Beerdigung. Doch die systematischen Kontrollen von Reisenden durch die Polizei wurden Ende 1997 eingestellt, ausgenommen jene Reisenden, deren Zielort Pjöngjang oder ein anderes Sperrgebiet war. 24 Die Bestimmungen wurden gelockert, als die Hungersnot die Menschen auf der Suche nach Lebensmitteln auf die Straßen trieb. Seither hielten Bestechungsgelder die Polizeiund andere Sicherheitskräfte davon ab, es mit den Gesetzen genau zu nehmen. Um es auf eine kurze Formel zu bringen: Die Gier der geldhungrigen nordkoreanischen Kader machte Shins Odyssee möglich.
    Höchstwahrscheinlich war der Lastwagen, auf dem Shin mitfuhr, ein Militärfahrzeug, das illegal zu einem einträglichen privaten Verkehrsmittel umfunktioniert worden war. Das System, bekannt unter der Bezeichnung Servi-Cha oder »Dienstwagen«, wurde in den späten neunziger Jahren von staatlichen und militärischen Spitzen erfunden, um Händler zu melken, die darauf angewiesen waren, mit ihren Waren umherzureisen. Es war Bestandteil eines nichtstaatlichen Transportsystems, das von Daily NK , einer Webseite aus Seoul mit Informanten in Nordkorea, als das »zentrale Transportmittel« und wahrscheinlich der »entscheidende Motor des Wachstums« privater Märkte bezeichnet worden ist. 25
    In Nordkorea gehören Fahrzeuge nicht Privatpersonen, sondern der Regierung, der Partei und dem Militär. Clevere Unternehmer in diesen Institutionen funktionierten Lastwagen um und machten gemeinsame Sache mit Schmugglern, um ganze Flotten von gebrauchten Personenwagen, Lieferwagen und Bussen aus China zu importieren. Nach der Registrierung und Zulassung der Fahrzeuge im Namen staatlicher Institutionen heuerte man private Fahrer an und bot umherziehenden Händlern und Privatpersonen wie Shin billige Transporte ohne bürokratische Schikanen in fast allen Regionen Nordkoreas.
    Der rebellische Kapitalismus jagte der nordkoreanischen Regierung einen Schrecken ein. Sie warnte öffentlich vor einer gefährlichen Entwicklung hin zu einem Regimewandel und schließlich einer Katastrophe. Doch wiederholte Versuche, bestechliche Personen zu disziplinieren, die privaten Märkte zurückzudrängen, die Servi-Cha von den Straßen wegzubekommen und das kassierte Geld zu konfiszieren, stießen auf breiten Widerstand, hauptsächlich aus den Reihen schlecht bezahlter Staatsbeamter, deren Lebensunterhalt darauf beruhte, dass sie polizeiliche und staatliche Machtbefugnisse dazu benutzten, von den neureichen Kapitalisten Bargeld einzutreiben.
    Um den Händlern Geld abzupressen, erfanden die nordkoreanischen Sicherheitskräfte eine neue Masche, wie man Straflager nach dem Muster der Lager für lebenslange politische Häftlinge gewinnbringend nutzen könnte. Sie verfielen auf die Idee, Händler, die nicht bereit waren, Bestechungsgelder zu bezahlen, für kurze Zeit in solchen Lagern zu internieren und gelegentlich auch zu foltern. In regelmäßigen Abständen führte die Polizei auf den Märkten Razzien durch und verhaftete Händler unter Berufung auf Bestimmungen, die angeblich den Handel auf Märkten verboten. Händler umgingen die grausame Erfahrung des Arbeitslagers nur, wenn sie zahlten.
    Die Existenz dieser Lager, die die Regierung vor Shins Flucht eingerichtet hatte, wurde erstmals 2009 in »Repression and Punishment in North Korea« (Unterdrückung und Strafe in Nordkorea) öffentlich gemacht, einem Bericht auf der Grundlage von Befragungen von über 1600 Flüchtlingen in China und Südkorea aus den Jahren 2004 bis 2008.
    Sicherheitsbeamte nutzten die Lager als »ein System zur Ausplünderung von Menschen«, erfuhr ich von Marcus Noland, einem in Washington ansässigen Volkswirtschaftler und Mitautor des Berichts. »Es sieht ganz wie das Werk einer kriminellen Bande aus,

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