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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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jedoch unangenehm, so schäbig gekleidet vor ihnen zu erscheinen. Er bat Shin, ihm seinen Mantel für ein paar Minuten zu leihen. Sobald er sich bei seinen Eltern gemeldet habe, werde er zu dem Nudelimbiss zurückkommen und Shin zu der Wohnung bringen, wo sie sich aufwärmen und schlafen könnten.
    Seit seiner Flucht aus dem Lager hatte Shin sich bemüht, den normalen Umgang unter Nordkoreanern zu erlernen. Doch in den wenigen Tagen in Freiheit hatte er noch nicht allzu viele Erfahrungen gesammelt. Einen Mantel einem Freund zu leihen, der ihn benötigte, um vor seinen Eltern nicht das Gesicht zu verlieren, so etwas könnte üblich sein, dachte Shin. Er zog den Mantel aus, gab ihn dem Freund und erklärte, dass er auf ihn warten werde.
    Stunden vergingen. Es schneite immer noch. Sein Freund kam nicht zurück, und Shin hatte auch nicht daran gedacht, ihm zu folgen und zu sehen, in welches Mietshaus er gegangen war. Schließlich machte Shin sich auf die Suche in den Straßen der Umgebung, ohne Erfolg. Verwirrt und durchgefroren wickelte er sich in ein schmutziges Stück Plastikplane, das er auf der Straße fand, und wartete auf den Morgen.
    Während der nächsten zwanzig Tage trieb sich Shin auf den Straßen Kiljus herum. Ohne Mantel, ohne Geld, ohne eine Menschenseele zu kennen und ohne jede Vorstellung davon, wohin er sich wenden könnte, bedeutete es eine enorme Anstrengung, am Leben zu bleiben. Die durchschnittliche Januartemperatur in der Stadt beträgt minus 8 Grad Celsius.
    Was ihn rettete, waren die Gesellschaft und die Ratschläge der Obdachlosen der Stadt, von denen viele noch nicht erwachsen waren. Er traf sie in der Nähe des Bahnhofs, wo sie bettelten, schwatzten und dann und wann in Gruppen aufbrachen, um nach Essbarem zu suchen.
    Die Gruppe, der Shin sich anschloss, hatte sich darauf spezialisiert, Daikon auszugraben. Das ist ein großer ostasiatischer Rettich, der häufig zu Kimchi, gut gewürztem, milchsauer vergorenem Gemüse, verarbeitet wird, dem berühmtesten Gericht Koreas. Um den im Herbst geernteten Daikon während der kalten Monate vor Frost zu schützen, vergraben die Nordkoreaner ihn zuweilen unter Erdhügeln.
    Tagsüber folgte Shin Gruppen von jugendlichen Dieben in die Vororte der Stadt, wo sie nach einzeln stehenden Häusern Ausschau hielten, in deren Gärten verräterische Aufschüttungen zu sehen waren. Nachdem er so den Tag mit dem Ausbuddeln und dem Verzehr roher Daikon verbracht hatte, kehrte Shin wieder in das Stadtzentrum zurück und schleppte dabei möglichst viele der erbeuteten Wurzeln mit, um sie auf dem Gemüsemarkt zu verkaufen. Von dem Geld kaufte er sich Kleinigkeiten zu essen. Wenn er keine Daikon ausgraben konnte, suchte er in Mülleimern nach Gemüseresten.
    Nachts folgte Shin wiederum den Obdachlosen zu einem halb überdachten Schlafplatz, den sie in der Nähe von Gebäuden mit Fernheizung entdeckt hatten. Daneben schlief er auch in Heuschobern und in der Nähe von offenen Feuern, die von den Obdachlosen manchmal angezündet wurden.
    Er schloss keine Freundschaften und achtete nach wie vor darauf, nichts über sich zu erzählen.
    In Kilju sah Shin, wie in allen Städten Nordkoreas üblich, überall Fotografien von Kim Jong Il und Kim Il Sung, im Bahnhof, auf den öffentlichen Plätzen der Stadt und in den Wohnungen, in die er gelegentlich einbrach. Doch niemand, nicht einmal die Herumtreiber und die obdachlosen Jugendlichen, hätte es gewagt, die »Großen Führer« zu kritisieren oder sich über sie lustig zu machen. Neuere Befragungen von nordkoreanischen Flüchtlingen in China haben ergeben, dass diese Furcht dauerhaft und fast allgegenwärtig ist.
    Für Shin bestand die größte Aufgabe nach wie vor darin, genügend Nahrung zu finden. Doch das Plündern von Lebensmitteln war durchaus nichts Außergewöhnliches in Nordkorea.
    »Diebstahl war schon immer ein Problem«, schrieb Charles Robert Jenkins in seinen 2008 erschienenen Erinnerungen an die vierzig Jahre, die er in Nordkorea verbracht hatte. »Wenn man auf seine Sachen nicht aufpasste, gab es ganz bestimmt jemanden, der einen gern darum erleichterte.« 27
    Jenkins war ein wenig gebildeter und zutiefstunglücklicher Sergeant der US -Armee in Südkorea 1965, der fand, dass das Gras in Nordkorea grüner sei als das im Süden. Er trank zehn Glas Bier, stolperte über die weltweit am stärksten militarisierte Grenze und übergab sein M14-Gewehr den verblüfften nordkoreanischen Grenzsoldaten.
    »Ich hatte ja keine

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