Flucht aus Lager 14
arbeiten und bei Veranstaltungen sprechen würde. Als Gegenleistung gewährte LiNK ihm ein Stipendium für Unterkunft und Verpflegung, bezahlte ihm jedoch kein Gehalt. Mithilfe der Organisation erhielt er ein zehn Jahre gültiges Visum für mehrmalige Einreise, das ihm erlaubt, sich jeweils bis zu sechs Monate am Stück in den Vereinigten Staaten aufzuhalten.
Das US -amerikanische Einwanderungsgesetz sieht besondere Vergünstigungen für nordkoreanische Flüchtlinge vor, und Shins Ausnahmestatus als jemand, der in einem politischen Arbeitslager geboren wurde und dort aufwuchs, gab ihm eine sehr gute Chance, einen dauerhaften Aufenthalt in den USA bewilligt zu bekommen. Aber er beantragte keine Greencard. Er konnte sich nicht entscheiden, in welchem Land er sich endgültig niederlassen wollte.
Sich festzulegen fiel ihm überhaupt schwer. Er trug sich in Torrance für einen Englischkurs ein, stieg jedoch nach drei Monaten aus. Er verbrachte die meiste Zeit im Büro von LiNK, wo er im Internet nordkoreanische Nachrichten sah und mit den Koreanisch sprechenden Mitarbeitern plauderte. Manchmal war er damit zufrieden, den Boden zu wischen, die Post zu sortieren oder Ablage zu machen. Zu Hannah Song, der Büroleiterin, sagte er, man solle ihn nicht anders behandeln als alle anderen im Haus. Aber andererseits konnte er sich über die Arbeitsverteilung beschweren und Wutanfälle bekommen. Alle sechs Monate wurde seine Arbeit unterbrochen, wenn er wieder für einige Wochen nach Südkorea flog.
LiNK drängt die Nordkoreaner, deren Einreise in die Vereinigten Staaten von der Organisation unterstützt wird, bald nach ihrer Ankunft dazu, einen »Lebensplan« zu machen. Das ist eine Liste praktischer, erreichbarer Ziele, die es einem Neuankömmling erleichtern soll, ein stabiles, produktives Leben aufzubauen; flüssig Englisch sprechen, eine Berufsausbildung, psychologische Beratung und Übungen zum Umgang mit Geld gehören dazu.
Shin wollte keinen Lebensplan machen, und Hannah Song sagte, sie und andere in der Gruppe ließen ihn gewähren.
»Seine Geschichte ist so mächtig«, sagte sie. »Er nahm für sich in Anspruch, eine Ausnahme zu sein, und wir haben ihn darin unterstützt. Er trieb einfach ziellos in Torrance herum. Für ihn ist es notwendig, eine Erklärung dafür zu finden, warum er dieses Lager überlebt hat. Ich glaube nicht, dass er bisher eine Antwort darauf gefunden hat.«
Außerhalb der koreanischen Halbinsel gibt es für einen Koreaner keinen besseren Ort als den Großraum Los Angeles, um sich durchzuschlagen, ohne eine andere Sprache zu lernen. Über 300000 US -Amerikaner mit koreanischen Wurzeln sind in die Stadt und ihre Umgebung gezogen.
In Torrance und den angrenzenden Städten konnte Shin koreanisch essen, koreanisch einkaufen, arbeiten und beten. Er lernte genügend Englisch, um Burger oder mexikanische Gerichte zu bestellen und mit seinen Hausgenossen über Baseball und das Wetter zu reden.
Er schlief in einem Etagenbett in einem Einfamilienhaus mit Veranda, das LiNK zur Verfügung stellte und in dem bis zu 16 Volontäre und Praktikanten im Collegealter ein und aus gingen. An dem Tag, an dem ich zu Besuch kam, klebte auf der Geschirrspülmaschine in der Küche ein Zettel mit der Aufschrift: »Bitte nicht öffnen. Ich bin defekt und rieche nicht gut«. Die Möbel waren verwohnt, der Teppich ausgebleicht und die breite Veranda an der Vorderseite übersät mit Turnschuhen, Sandalen und Schlappen. Shin teilte ein enges Schlafzimmer mit drei LiNK-Helfern.
Die reichlich chaotische Wohnheimkameradschaft sagte ihm zu. Obwohl seine in Amerika geborenen Mitbewohner manchmal Krach machten, nur wenig Koreanisch sprachen und nie länger blieben, zog er ihre tatkräftige Unstetigkeit einem Leben allein vor. Es war ein Nachklang aus seiner Zeit im Lager 14. Er schlief besser und genoss ein Essen mehr, wenn er sich in Gesellschaft von Menschen befand, auch wenn es Fremde waren. Wenn er im Gemeinschaftshaus nicht einschlafen konnte oder wenn er von einem Albtraum erwachte, kroch er aus seinem Etagenbett und schlief, wie er es im Lager gewohnt war, auf dem blanken Boden unter einer Decke.
Shin fuhr mit dem Fahrrad zur Arbeit. Es war eine bequeme 25-minütige Fahrt durch Torrance, einen sonnenverwöhnten, industriell-vorstädtischen, multikulturell bunt gemischten Ort (142000 Einwohner). Er liegt rund 30 Kilometer südwestlich vom Zentrum von Los Angeles und besitzt einen prachtvollen Sandstrand an der Santa Monica
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