Flucht aus Lager 14
Bay, an dem Shin gelegentlich Spaziergänge machte.
Die Verantwortlichen von LiNK hatten das Büro von Washing ton nach Torrance verlegt, weil hier die Mieten niedriger waren und sie annahmen, Südkalifornien sei geeigneter, die jungen, hauptsächlich koreanisch-amerikanischen Helfer anzuwerben und unterzubringen, die sogenannten Nomaden. Hier in Torrance werden sie darauf vorbereitet, in den Vereinigten Staaten umherzureisen, Präsentationen zu organisieren und die Öffentlichkeit auf die Menschenrechtsverletzungen in Nordkorea aufmerksam zu machen.
Am Ende von Shins zweitem Sommer in Kalifornien war eine dieser »Nomaden«, die auf ihre Tätigkeit vorbereitet werden sollten, Harim Lee, eine auffallend attraktive junge Frau, die im Alter von vier Jahren mit ihrer Familie aus Seoul in die Vereinigten Staaten gekommen war.
Sie hatte eine Highschool in einem der Vororte von Seattle besucht und studierte im vierten Semester Soziologie an der University of Washington, als sie Shin zum ersten Mal auf einem Video auf YouTube sah. Der Film zeigt ihn in einem Vortragssaal in Mountain View, Kalifornien, wo er vor Mitarbeitern von Google Fragen über sein Leben beantwortete. Harim hatte auch in der Washington Post die Geschichte gelesen, die ich über Shin geschrieben hatte. Dort hatte ich ihn zitiert, dass er gern eine Freundin hätte, aber nicht wisse, wo er eine junge Frau kennenlernen könne.
Harim Lee, die zweisprachig aufwuchs, war ein Mal nach Südkorea zurückgekehrt, um dort eine Zeitlang für eine Nichtregierungsorganisation, die sich mit Nordkorea befasste, als Übersetzerin zu arbeiten. Nach drei Jahren College beschloss sie dann, ihr Studium abzubrechen und sich ganz dem Thema Nordkorea zu widmen. Über das Internet erfuhr sie von LiNK und dem »Nomaden«-Programm. Dass Shin in Torrance lebte, erfuhr sie kurz vor ihrer Abreise aus Seattle, um bei LiNK anzufangen. Sie sah in ihm eine Berühmtheit und hatte den tiefen Wunsch, ihn näher kennenzulernen. In Torrance bekam sie ihn bald im Büro von LiNK zu Gesicht und setzte alles daran, einen geeigneten Zeitpunkt und Ort zu finden, wo sie miteinander reden könnten. Sie mochten sich sofort. Er war 27 und sie 22 Jahre alt.
LiNK hat die strenge Regel, dass nordkoreanische Flüchtlinge und Praktikanten kein Paar werden dürfen. Letztere sind zumeist noch im Collegealter und leben weit von ihren Eltern entfernt. Diese Regel soll sowohl die im Haus wohnenden Praktikanten als auch die Flüchtlinge schützen und die Durchführung des » Nomaden«-Programms erleichtern.
Shin und Harim ignorierten die Vorschrift. Als sie ermahnt wurden, ihr Verhältnis so lange zu unterbrechen, bis sie ihre Praktikumszeit beendet hätte, reagierten beide wütend. Harim drohte, aus dem Projekt auszusteigen. »Wir haben einen richtigen Aufstand gemacht, um zu zeigen, dass wir diese Regel für falsch halten«, sagte sie mir.
Shin sah in der Mahnung eine persönliche Beleidigung. Er beklagte sich darüber, dass mit zweierlei Maß gemessen und er zu einem Menschen zweiter Klasse degradiert werde. Er setzte hinzu, sein Vertrauter Andy Kim habe auch eine Freundin im Haus. »Was mich kränkt, ist, dass sie auf mich keine Rücksicht nehmen«, beklagte er sich bei mir. »Sie haben gedacht, sie könnten in mein Privatleben hineinreden.«
Nach einer Südkoreareise und einigen Monaten des Grübelns verließ Shin LiNK. Sein Verhältnis mit Harim war nicht der einzige Grund für diese Entscheidung. Hannah Song war frustriert, dass Shin manchmal keine Verantwortung übernahm, eine besondere Behandlung erwartete und wenig Anstalten machte, ernsthaft Englisch zu lernen, was seinen Einsatz als Sprecher für LiNK in den Vereinigten Staaten einschränkte. Daneben gab es Differenzen im Hinblick auf Shins Unterkunft. Shin hatte Song so verstanden, dass LiNK ihm nicht länger eine Unterkunft stellen wolle. Song sagte dagegen, sie habe Shin nur mitgeteilt, irgendwann werde er sich darum kümmern müssen, eine eigene Wohnung zu finden.
Die Spannungen waren vermutlich unvermeidlich. Sicher waren sie nichts Ungewöhnliches. In Südkorea kommt es immer wieder vor, dass Flüchtlinge aus dem Norden ihren Job aufgeben mit der Begründung, man habe sie zum Sündenbock gemacht. Im Umsiedlerzentrum Hanawon berichten Berufsberater, dass Verfolgungswahn am Arbeitsplatz, stürmische Kündigungen und andauernde Gefühle des Verrats chronische Probleme von Nordkoreanern sind, die sich an ein Leben in Südkorea gewöhnen
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