Flucht aus Lager 14
führte, erwähnte er mehrmals einen »toten Raum« in seinem Inneren, der es ihm schwer mache, überhaupt irgendetwas zu empfinden. Manchmal, so sagte er, gebe er vor, glücklich zu sein, um zu sehen, wie andere Menschen auf ihn reagierten. Häufig bemühte er sich nicht.
Shins Anpassung an das Leben in den Vereinigten Staaten war nicht einfach gewesen.
Bald nachdem er im Frühjahr 2009 nach Kalifornien gekommen war, wurde Shin von heftigen und wiederholten Kopfschmerzen geplagt. Seine Kollegen von LiNK waren besorgt, dass er noch unter der posttraumatischen Belastungsstörung leiden könnte. Am Ende stellte sich heraus, dass die Kopfschmerzen von akutem Zahnzerfall verursacht waren. Ein Zahnarzt führte eine Wurzelbehandlung durch. Damit verschwanden auch die Kopfschmerzen.
Diese schnelle Heilung war die Ausnahme.
Es gibt keinen kurzen, einfachen Weg für Shin, und es wird auch keinen geben, sich an ein Leben außerhalb des Elektrozauns zu gewöhnen, weder in den Vereinigten Staaten noch in Südkorea. Seine Freunde sehen es so, und Shin hat es mir gegenüber bestätigt.
»Shin ist noch immer ein Gefangener«, sagte Andy Kim, ein junger US -Amerikaner mit koreanischen Wurzeln, der bei LiNK mitarbeitet und eine Zeitlang Shins engster Vertrauter war. »Er kann sich seines Lebens nicht freuen, solange es Menschen gibt, die in den Lagern leiden. Für ihn ist Glück Selbstsucht.«
Andy und Shin sind etwa im gleichen Alter, und sie haben oft gemeinsam im Los Chilaquiles Mittag gegessen, einem preiswerten mexikanischen Lokal in einer Einkaufsmeile ganz in der Nähe des LiNK-Büros in einem Gewerbegebiet von Torrance. Für Shin war Essen das Allerschönste, und er redete am freiesten in koreanischen und mexikanischen Restaurants. Über mehrere Monate hinweg gingen Andy und Shin einmal in der Woche zusammen essen und unterhielten sich eine Stunde lang darüber, wie sich Shins Leben in den Vereinigten Staaten entwickelte.
Viele gute Dinge passierten. Shin war im Büro gesprächig und munter geworden. Er erstaunte Andy und andere, die für LiNK arbeiteten, indem er plötzlich in ihr Büro kam und ihnen sagte, dass er sie »liebe«. Andererseits nahm er von denselben Menschen häufig keine Ratschläge an und hatte Probleme damit, zwischen konstruktiver Kritik und persönlichem Treuebruch zu unterscheiden. Kaum Fortschritte machte er im Hinblick auf den Umgang mit Geld. Manchmal gab er bei Essen in einem Lokal oder für Flugtickets für Freunde mehr aus, als er sich leisten konnte. In tränenreichen Gesprächen mit Andy bezeichnete er sich selbst als »wertlosen Müll«.
»Manchmal sieht Shin sich mit den Augen seines neuen Selbst, und dann wieder sieht er sich mit den Augen der Wärter im Lager«, sagte Andy. »Er ist zu einem Teil hier und zu einem Teil dort.«
Als ich Shin fragte, ob das so stimme, nickte er bestätigend.
»Ich entwickle mich aus einem Leben als Tier«, sagte er. »Aber es passiert sehr, sehr langsam. Manchmal möchte ich unbedingt weinen oder lachen wie andere Menschen, einfach um festzustellen, ob es sich nach etwas anfühlt. Aber es kommen keine Tränen. Es kommt kein Lachen.«
Sein Verhalten stimmte mit dem Muster überein, das Forscher unter Überlebenden von Konzentrationslagern auf der ganzen Welt beobachtet haben. Häufig gehen sie mit einer »kontaminierten Identität« durchs Leben, wie die Harvard-Psychiaterin Judith Lewis Herman das Phänomen beschrieben hat.
»Sie leiden nicht nur unter einem klassischen posttraumatischen Syndrom, sondern auch unter tief reichenden Änderungen ihrer Beziehungen zu Gott, zu anderen Menschen und zu sich selber«, schrieb Herman in ihrem Buch Die Narben der Gewalt. Traumatische Erfahrungen verstehen und überwinden, eine Untersuchung der psychischen Folgen von politischem Terror. 45
Bald nachdem Shin in Kalifornien eingetroffen war, nahm sich Kyung Soon Chung, die in Seoul geborene Frau eines Pastors, seiner an, kochte für ihn, bemutterte ihn und verfolgte seine Eingewöhnung in die amerikanische Lebensweise. Als er zum ersten Mal zu ihr nach Hause zum Essen kam, begrüßte sie ihn gleich stürmisch und wollte ihn in ihre Arme schließen. Er sträubte sich. Es war ihm unangenehm, wenn man ihn berührte.
Aber er kam weiter zum Abendessen, zum Teil, weil ihm das Essen von Kyung schmeckte. Und außerdem freundete er sich mit ihren erwachsenen Kindern an: Eunice, einer Menschenrechtsaktivistin, die er in Seoul kennengelernt hatte, und ihrem jüngeren
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