Flucht aus Lager 14
ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Kim Jong Il auf denselben Gedanken verfällt«, sagte Shin. »Ich hoffe, dass die Vereinigten Staaten durch Druck und Überredung [die Regierung Nordkoreas] dazu bewegen können, nicht alle Menschen in den Lagern umzubringen.«
Shin hatte immer noch keine Ahnung, wie er seine Rechnungen begleichen, von was er leben und wie er in Südkorea eine Freundin finden sollte. Aber er hatte entschieden, was er künftig mit seinem Leben anfangen würde: Er wollte Menschenrechtsaktivist werden und die Welt darüber aufklären, dass es in Nordkorea diese Lager gab.
Zu diesem Zweck hatte er vor, Südkorea zu verlassen und in die Vereinigten Staaten zu ziehen. Er hatte ein Angebot der gemeinnützigen Organisation Liberty in North Korea (LiNK) angenommen, die seine erste Amerikareise finanziert hatte. Sein Ziel war Südkalifornien.
KAPITEL 23
Die Vereinigten Staaten
An einem kühlen Spätsommerabend in einem Küstenvorort von Los Angeles stand Shin vor einem kleinen Publikum koreanisch-amerikanischer Teenager. Er trug ein rotes T-Shirt, Jeans und Sandalen, wirkte entspannt und lächelte freundlich die Jugendlichen an, die auf stapelbaren Stühlen saßen. Er war der Hauptredner, den die Torrance First Presbyterian Church eingeladen hatte, und sein Thema war wie immer, wenn er in der Öffentlichkeit auftrat, das Leben im Lager 14.
Seit über einem Jahr hatten ihn seine Sponsoren von LiNK zu solchen Veranstaltungen geschickt und ihm zugesetzt, sich entsprechend vorzubereiten. Sie wollten, dass er eine pointierte, die Gemüter bewegende Rede hielt, die dank seiner außerordentlichen Geschichte helfen würde freiwillige Mitarbeiter zu werben und vielleicht Geld zu sammeln für die Sache der Menschenrechte in Nordkorea. Ein Mitglied der Gruppe drückte es mir gegenüber so aus: »Shin könnte ein unglaublicher Aktivposten für uns und diese Bewegung sein. ›Du könntest das Gesicht Nordkoreas sein‹, sagen wir ihm immer wieder.«
Shin hatte da seine Zweifel.
Auf die Veranstaltung in Torrance hatte er sich überhaupt nicht vorbereitet. Nachdem er von einem der Mitarbeiter von LiNK vorgestellt worden war, begrüßte er die Schüler auf Koreanisch und fragte über einen Dolmetscher, ob sie irgendwelche Fragen hätten. Als ihn ein Mädchen aus dem Publikum bat zu erzählen, wie er dem Lager entkommen sei, wirkte er gequält.
»Das ist wirklich privat und heikel«, sagte er. »Ich versuche es nach Möglichkeit zu vermeiden, darüber zu sprechen.«
Widerstrebend erzählte er eine Geschichte über seine Flucht, die kurz, oberflächlich und unverfänglich war – und weitgehend unverständlich für jemanden, der nicht mit den Einzelheiten seines Lebens vertraut war.
»Meine Geschichte kann sehr erschütternd sein«, sagte er und beendete die Veranstaltung nach etwa 15 Minuten. »Ich möchte nicht, dass sie euch zu sehr bedrückt.«
Er hatte die Anwesenden gelangweilt und konsterniert. Ein Junge – der offensichtlich weder wusste, wer Shin war, noch was er in Nordkorea erlebt hatte – stellte eine letzte Frage. Wie war es für ihn im nordkoreanischen Militär? Shin klärte das Missverständnis und sagte, er habe nicht in der Nordkoreanischen Volksarmee gedient. »Ich war unwürdig«, sagte er.
Nachdem ich seinen Auftritt in der Kirche verfolgt hatte, drängte ich Shin, mir zu erklären, was mit ihm los war: Warum wolle er als Zeuge für die Menschenrechte auftreten, wenn es ihm offensichtlich so schwerfalle, öffentlich darüber zu sprechen, was im Lager passiert war? Warum lasse er die Teile seiner Geschichte aus, die ein Publikum erschüttern könnten?
»Die Dinge, die ich durchgemacht habe, betrafen mich ganz allein«, erwiderte er, ohne mir in die Augen zu sehen. »Ich glaube, dass es für die meisten Menschen unmöglich ist zu verstehen, wovon ich eigentlich rede.«
Albträume – Bilder der Hinrichtung seiner Mutter – verfolgten ihn auch weiterhin. Seine nächtlichen Schreie weckten die anderen Mitarbeiter von LiNK, mit denen er in einem Gemeinschaftshaus in Torrance zusammenwohnte. Eine kostenlose Beratung von einem Psychotherapeuten in Los Angeles, der Koreanisch sprach, lehnte er ab. Er wollte sich nicht für Kurse einschreiben, mit deren Hilfe er ein Zeugnis bekommen hätte, das dem Abschlusszeugnis einer Highschool entsprochen hätte. Über ein Studium auf einem College wollte er gar nicht erst nachdenken.
Während unserer gemeinsamen Wochen, in denen ich die Interviews mit ihm
Weitere Kostenlose Bücher