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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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Bruder David, der vor kurzem an der Yale-Universität graduiert worden war und sich ebenfalls für Menschenrechte engagierte. Die Familie, die sich mit mehreren nordkoreanischen Immigranten angefreundet hat, wohnt in Riverside, 100 Kilometer von Torrance entfernt. Kyung und ihr Mann Jung Kun Kim stehen an der Spitze einer kleinen christlichen Gemeinde mit Namen Ivy Global Mission.
    Shin hatte eine koreanische Familie entdeckt, die offen, herzlich und liebevoll war. Er war neidisch und ein wenig überwältigt von der Intensität, mit der sie füreinander da waren – und für ihn. Fast zwei Jahre lang verbrachte er jeden zweiten Samstagabend beim Abendessen mit ihnen. Er übernachtete in einem Gästezimmer und ging zusammen mit der Familie am Sonntag in die Kirche.
    Kyung, die kaum Englisch spricht, bezeichnete Shin nach einiger Zeit als ihren ältesten Sohn. Er ertrug – und erwiderte irgendwann – ihre Umarmungen. Er merkte sich, dass sie gern gefrorenen Joghurt mochte, und bevor er zum samstäglichen Essen kam, hielt er bei einem Supermarkt und kaufte ein paar Becher für sie ein. Sie neckte ihn und sagte: »Wann wirst du mir eine Schwiegertochter mitbringen?« Er machte ihr Komplimente, dass sie abgenommen habe und jünger aussehe. Sie unterhielten sich stundenlang zu zweit miteinander.
    »Warum sind Sie so nett zu mir?«, fragte Shin sie einmal, als er eines seiner Tiefs hatte. »Wissen Sie nicht, was ich getan habe?«
    Er erzählte Kyung, dass er sich »verabscheue«, dass er den Träumen vom Tod seiner Mutter nicht entgehen könne, dass er es sich nicht verzeihe, dass er seinen Vater im Lager zurückgelassen habe. Und er hasse sich dafür, dass er über den Leichnam Parks durch den Zaun gekrochen war. Er sagte auch, dass er sich schäme, weil er während seiner Flucht Reis und Kleidung von armen Nordkoreanern gestohlen habe.
    Kyung ist überzeugt, dass er seine Schuldgefühle nie loswerden wird. Aber sie sagte ihm immer wieder, dass er ein ausgeprägtes Gewissen und ein gutes Herz habe. Und dass er einen Vorteil gegenüber anderen Nordkoreanern habe: Er sei nicht infiziert von der Propaganda und dem Personenkult, der um die Kim-Dynastie veranstaltet werde.
    »An Shin ist eine gewisse Reinheit«, sagte sie. »Ihn hat man nie einer Gehirnwäsche unterzogen.«
    Ihre Kinder bemerkten auffällige Veränderungen an Shins Selbstbewusstsein und seinen sozialen Fähigkeiten, nachdem er einige Jahre in Kalifornien gelebt hatte. Er war weniger schüchtern, lachte mehr und wurde eine Art »Schmuser«. Vor und nach meinen Interviews mit ihm nahm er auch mich in die Arme.
    »Am Anfang war er verlegen, wenn er mit meinen Freunden aus der Kirche zusammenkam«, erzählte Eunice. »Jetzt weiß er, was ein Scherz ist. Er kann laut darüber lachen.«
    David stimmte zu. »Shin zeigt echte Empathie für andere. Man kann es auch Liebe nennen – er hat vielleicht eine ganze Menge Liebe in seinem Herzen.«
    Shins Selbsteinschätzung klingt skeptischer.
    »Da ich von guten Menschen umgeben bin, strenge ich mich an, mich so zu verhalten, wie gute Menschen es tun«, sagte er mir gegenüber. »Aber es fällt mir sehr schwer. Es kommt nicht spontan aus mir heraus.«
    In Kalifornien begann Shin seinen geglückten Ausbruch aus dem Lager 14 ebenso wie das Glück, den Weg aus Nordkorea und aus China herausgefunden zu haben, Gott zuzuschreiben. Sein aufkommender christlicher Glaube stimmte jedoch nicht mit dem Verlauf seines bisherigen Lebens überein. Von einem Gott erfuhr er erst, als es zu spät war für seine Mutter, seinen Bruder und Park. Er bezweifelte auch, dass Gott seinen Vater vor der Rache der Wärter bewahrt hatte.
    Genauso war Schuld für Shin im Lager kein Thema gewesen. Als Heranwachsender war er wütend auf seine Mutter, weil sie ihn geschlagen hatte, wegen ihres Fluchtversuchs und weil sie schuld daran war, dass man ihn gefoltert hatte. Als er sah, wie man sie hängte, empfand er keine Trauer. Doch als erwachsener Überlebender, als seine emotionale Distanz zum Lager wuchs, traten an die Stelle seiner Wut Schuldgefühle und Selbsthass. »Es sind Gefühle, die langsam angefangen haben, aus meinem Inneren nach außen zu kommen«, berichtete er. Nachdem er aus unmittelbarer Nähe gesehen hatte, wie sich liebevolle Familien verhalten, konnte er die Erinnerung daran, wie er sich als Sohn benommen hatte, kaum aushalten.
    Als Shin nach Torrance kam, lautete seine Vereinbarung mit LiNK, dass er gemeinsam mit den freiwilligen Helfern

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