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Flucht aus Lager 14

Flucht aus Lager 14

Titel: Flucht aus Lager 14 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Harden
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benötige. Doch in Columbus kam es zu keinem ernsthaften Gespräch, unter anderem deshalb, weil Shin sich an die Uhrzeit der Westküste hielt: Er schlief am späten Vormittag ein, wurde erst am späten Abend wach und telefonierte dann über Skype mit Harim.
    Als Shin nach Seattle zurückflog, traf ich ihn und Harim wieder. Ihr Haus war noch immer zu unordentlich für meinen Besuch, deshalb tranken wir bei Starbucks einen Kaffee. Als ich die beiden fragte, wie sie miteinander zurechtkämen, wurde Harim rot, lächelte und schaute verliebt zu Shin.
    Shin lächelte nicht.
    Er wollte darüber nicht sprechen.
    Ich war hartnäckig und erinnerte ihn daran, dass er mir gegenüber oft geäußert hatte, er sei nicht fähig zu lieben und unbegabt für eine Ehe. Hatte er seine Meinung geändert?
    »Zuallererst müssen wir arbeiten«, erwiderte er. »Aber wenn die Arbeit getan ist, gibt es Hoffnung auf einen Fortschritt.«
    Mit der Beziehung ging es nicht gut. Sechs Monate nachdem er mit Harim zusammengezogen war, rief Shin mich an und teilte mir mit, dass sie sich getrennt hätten. Über den Grund wollte er nichts sagen. Am Tag darauf flog er nach Ohio, um einige Zeit bei den Dyes zu wohnen. Er war sich nicht sicher, wohin er danach gehen würde, vielleicht zurück nach Südkorea.
    Als Shin sich noch in der Umgebung von Seattle aufhielt, lud er mich in eine koreanisch-amerikanische Pfingstkirche in einem der nördlichen Vororte der Stadt ein. Er sollte dort einen Vortrag halten, und es schien ihm viel daran zu liegen, dass ich kommen und ihm zuhören würde. Als ich an einem kalten und regnerischen Sonntagabend vor der Kirche eintraf, wartete Shin schon auf mich. Er begrüßte mich, indem er meine Hand mit beiden Händen schüttelte, sah mir in die Augen und sagte, für mich sei ein Platz ganz vorn reserviert. Er war etwas förmlicher angezogen, als ich ihn sonst kannte: grauer Anzug, blaues Frackhemd mit offenem Kragen, blank polierte Slipper. Alle Bänke waren besetzt.
    Nach einem Kirchenlied und einem Gebet, das der Pastor sprach, ging Shin nach vorne und übernahm für den Abend die Leitung. Ohne Notizen, ohne jedes Zeichen von Nervosität sprach er eine geschlagene Stunde lang. Zu Beginn rüttelte er seine Zuhörer, koreanische Einwanderer und ihre in den Vereinigten Staaten aufgewachsenen, inzwischen volljährigen Kinder, damit auf, dass er behauptete, Kim Jong Il sei schlimmer als Hitler. Während Hitler seine Feinde angegriffen habe, habe Kim sein eigenes Volk in Arbeitslagern wie dem Lager 14 sich zu Tode arbeiten lassen.
    Nachdem er das Interesse der Anwesenden geweckt hatte, stellte Shin sich als Raubtier vor, das in dem Lager, in dem er aufgewachsen war, darauf abgerichtet wurde, Familienangehörige und Kameraden zu denunzieren, ohne Gewissensbisse zu spüren. »Mein einziger Gedanke war, dass ich andere ausnutzen musste, um selbst durchzukommen«, erklärte er.
    Als in diesem Lager sein Lehrer eine sechsjährige Klassenkameradin totschlug, weil sie fünf Maiskörner bei sich hatte, bekannte Shin vor den Anwesenden, habe er sich »nichts dabei gedacht«.
    »Ich kannte weder Sympathie noch Traurigkeit«, sagte er. »Sie erzogen uns von Geburt an so, dass wir zu normalen menschlichen Gefühlen nicht imstande waren. Jetzt, da ich draußen bin, lerne ich, Gefühle zu haben. Ich habe zu weinen gelernt. Ich habe das Gefühl, langsam menschlich zu werden.«
    Doch Shin betonte, dass er noch immer einen langen Weg vor sich habe. »Physisch bin ich ausgebrochen«, sagte er, »aber psychisch bin ich noch dort.«
    Gegen Ende seines Vortrags schilderte Shin, wie er über Parks verbrannten Körper gekrochen war. Seine Beweggründe, aus dem Lager zu fliehen, seien nicht edel gewesen. Er habe nicht nach Freiheit oder politischen Rechten gedürstet. Er habe nur Hunger nach Fleisch gehabt.
    Shins Vortrag erstaunte mich. Verglichen mit dem schüchternen, unkonzentrierten Redner, den ich sechs Monate zuvor in Südkalifornien gesehen und gehört hatte, war er nicht wiederzuerkennen. Er hatte seinen Selbsthass positiv gewendet und dazu benutzt, auf den Staat zu zeigen, der sein Herz vergiftet und seine Angehörigen getötet hatte.
    Sein Bekenntnis, erfuhr ich später, war das kalkulierte Ergebnis harter Arbeit. Shin hatte festgestellt, dass seine Auftritte nach dem Schema Frage und Antwort das Publikum langweilten. Deshalb beschloss er, dem Rat zu folgen, dem er sich jahrelang widersetzt hatte; er legte die Konturen seines Vortrags fest,

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