Flucht aus Lager 14
schnitt ihn auf das Publikum zu und lernte das, was er sagen wollte, auswendig. Ganz allein in seinem Zimmer perfektionierte er seinen Vortrag.
Diese Vorbereitung zahlte sich aus. An diesem Abend rutsch ten seine Zuhörer auf ihren Bänken hin und her, aus ihren Gesichtern sprachen Unbehagen, Widerwillen, Wut und Erschütterung. Einige Gesichter waren tränenüberströmt. Als Shin geendet hatte, als er der Versammlung sagte, ein einziger Mensch, der dagegen aufbegehrt, dass man ihn zum Schweigen bringen will, könne dazu beitragen, die Zehntausenden zu befreien, die noch in den nordkoreanischen Lagern seien, brach donnernder Applaus aus.
In dieser Rede, wenn auch noch nicht in seinem Leben, hatte Shin seine Vergangenheit in den Griff bekommen.
ANHANG
Die zehn Gesetze des Lagers 14
(Shin musste in der Schule des Lagers diese Vorschriften auswendig lernen, und ihm wurde von den Wärtern häufig befohlen, sie aufzusagen.)
1. Versuche nicht zu fliehen.
Jeder, der bei einem Ausbruchsversuch gefasst wird, wird auf der Stelle erschossen.
Jeder Zeuge eines Ausbruchsversuchs, der diesen nicht anzeigt, wird auf der Stelle erschossen.
Jeder Zeuge eines Ausbruchsversuchs muss diesen unverzüglich einem Wärter melden.
Gruppen von zwei oder mehr Personen ist es verboten, sich zu dem Zweck zu versammeln, einen Ausbruchsplan zu fassen oder einen Ausbruch zu versuchen.
2. Es dürfen niemals mehr als zwei Häftlinge beieinanderstehen.
Jeder, der es versäumt, sich von einem Wärter die Erlaubnis erteilen zu lassen, eine Gruppe mit mehr als zwei Häftlingen zu bilden, wird auf der Stelle erschossen.
Wer unbefugt das Dorf der Wärter betritt oder wer öffentliches Eigentum beschädigt, wird auf der Stelle erschossen.
Die Anzahl der Häftlinge bei einer Zusammenkunft darf nicht größer sein als vom diensthabenden Wärter erlaubt.
Außerhalb der Arbeit dürfen sich Häftlinge ohne Erlaubnis nicht zu einer Gruppe zusammenfinden.
Des Nachts dürfen Häftlinge ohne die Genehmigung eines Wärters nicht in Gruppen von mehr als zwei Personen umhergehen.
3. Du sollst nicht stehlen.
Wird bei einem Häftling eine Waffe gefunden oder wird ein Häftling beim Stehlen einer Waffe auf frischer Tat angetroffen, so wird er auf der Stelle erschossen.
Wer einen Häftling, der Waffen besitzt oder Waffen gestohlen hat, nicht anzeigt, wird auf der Stelle erschossen.
Jeder, der Lebensmittel stiehlt oder versteckt, wird auf der Stelle erschossen.
Wer vorsätzlich Materialien beschädigt, die im Lager benutzt werden, wird auf der Stelle erschossen
4. Den Wärtern ist bedingungslos zu gehorchen.
Wer gegen einen Wärter böse Absichten hat oder ihn körperlich angreift, wird auf der Stelle erschossen.
Wer nicht erkennen lässt, dass er mit den Anweisungen eines Wärters bedingungslos einverstanden ist, wird auf der Stelle erschossen.
Freche Antworten oder Beschwerden gegenüber einem Wärter sind verboten.
Wer einem Wärter begegnet, muss sich vor ihm ehrerbietig verbeugen.
5. Wer eine flüchtende oder verdächtige Gestalt sieht, ist verpflichtet, sie umgehend anzuzeigen.
Wer einen Flüchtling versteckt oder beschützt, wird auf der Stelle erschossen.
Wer das Eigentum eines Flüchtlings besitzt, mit ihm konspiriert oder ihn nicht anzeigt, wird auf der Stelle erschossen.
6. Die Häftlinge müssen sich gegenseitig beobachten und jedes verdächtige Verhalten unverzüglich anzeigen.
Jeder Häftling muss andere Häftlinge im Auge behalten und wachsam sein.
Die Rede und das Verhalten anderer Häftlinge müssen scharf beobachtet werden. Wenn irgendetwas einen Verdacht erregt, muss unverzüglich ein Wärter informiert werden.
Die Häftlinge müssen gewissenhaft an den Versammlungen des ideologischen Kampfs teilnehmen, und sie müssen andere und sich selbst schonungslos beurteilen.
7. Die Häftlinge müssen mehr tun, als die täglich zugeteilte Arbeit zu verrichten.
Häftlinge, die ihre Arbeitsnormen nicht einhalten oder die aufgetragene Arbeit nicht beenden, zeigen damit, dass sie unzufrieden sind, und werden auf der Stelle erschossen.
Jeder Häftling ist für seine Arbeitsnormen allein verantwortlich.
Die Erfüllung der Arbeitsnorm bedeutet das Abwaschen von Sünden und zugleich eine Wiedergutmachung gegenüber dem Staat für die Vergebung, die er gewährt hat.
Die Arbeitsnormen, die von einem Wärter aufgestellt werden, dürfen nicht verändert werden.
8. Außerhalb des Arbeitsplatzes ist eine Mischung der Geschlechter aus
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