Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
und Möbeln aus Kiefer und weißem Resopal. Sie war pieksauber. Cornflakes- und Müslipackungen waren ordentlich auf dem Kühlschrank aufgereiht, und in einem Regal standen große Glasgefäße mit Plätzchen, Reis und Nudeln.
Die Spülmaschine lief, und ich roch, dass im Backrohr ein Kuchen war. Ich fiel gleich mit der Tür ins Haus, um jedes mögliche Zögern im Keim zu ersticken: »Mrs. Wilson, Al Hunt, der vor elf Jahren Patient im Valhalla war, wurde eine ganze Zeitlang verdächtigt, mit den genannten Mordfällen in Verbindung zu stehen. Er kannte Beryl Madison.«
»Al Hunt?« Sie sah verwirrt aus.
»Erinneren Sie sich an ihn?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf.
»Aber Sie erzählten doch, dass Sie seit zwölf Jahren am Valhalla Hospital tätig seien?«
»Seit elfeinhalb Jahren, genauer gesagt«
»Wie schon erwähnt, Al Hunt war dort vor elf Jahren Patient.« »Der Name sagt mir nichts ...«
»Er hat in der vergangenen Woche Selbstmord begangen«, berichtete ich.
Jetzt schien sie sehr verwirrt.
»Ich habe mit ihm kurz vor seinem Tod gesprochen, Mrs. Wilson. Sein Sozialarbeiter starb vor neun Jahren bei einem Autounfall. Jim Barnes. Ich muss Ihnen ein paar Fragen über ihn stellen.«
Ihr Gesicht lief rot an. »Meinen Sie, dass sein Selbstmord in irgendeiner Weise etwas mit Jim zu tun hat?«
Da war ich überfragt. »Anscheinend wurde Jim Barnes nur Stunden vor seinem Tod vom Krankenhaus gefeuert«, fuhr ich fort. »Ihr Name – oder zumindest Ihr Mädchenname – steht im Bericht des Leichenbeschauers, Mrs. Wilson.«
»Es bestand – nun, es bestand da eine gewisse Unsicherheit«, stammelte sie. »Sie wissen schon – ob es ein Unfall oder Selbstmord war. Auch ich wurde befragt. Von einem Doktor oder einem Leichenbeschauer. Ich weiß nicht mehr. Aber ein Mann rief mich damals an.«
»Dr. Brown?«
»Ich erinnere mich nicht mehr an seinen Namen«, sagte sie. »Warum wollte er mit Ihnen sprechen, Mrs. Wilson?« »Vermutlich, weil ich eine der letzten Personen war, die Jim lebendig gesehen hatten. Ich glaube, der Doktor hatte bei der Aufnahme im Krankenhaus angerufen, und Betty hatte ihn an mich verwiesen.«
»Betty?«
»Sie saß damals an der Aufnahme.«
»Sie müssen mir alles erzählen, was Ihnen zu Jim Barnes’ Entlassungdamals noch einfällt«, bat ich. Sie stand auf und schaute nach, wie weit der Kuchen war.
Als sie sich wieder setzte, wirkte sie ein wenig gefasster. Sie sah nicht mehr nervös aus, sondern wütend.
Sie sagte: »Man sollte ja über Tote nichts Schlechtes sagen, Dr. Scarpetta, aber Jim war kein netter Mensch. Er stellte ein großes Problem für die Klinik dar, und er hätte eigentlich schon viel früher entlassen werden müssen.«
»Inwiefern stellte er ein Problem dar?«
»Patienten erzählen immer eine ganze Menge. Sie sind oft nicht besonders, na, sagen wir, glaubwürdig. Es ist schwer zu entscheiden, was wahr ist an ihrem Gerede und was nicht. Dr. Masterson und auch anderen Therapeuten kamen von Zeit zu Zeit Beschwerden über Jim zu Ohren, aber nichts konnte bewiesen werden, bis sich eines Morgens ein Vorfall vor Zeugen ereignete. Am selben Tag noch wurde Jim gefeuert, und gleich darauf verunglückte er.«
»Waren Sie Zeugin des besagten Vorfalls?«, fragte ich.
»Ja.« Sie marschierte mit einem entschlossenen Zug um den Mund quer durch die Küche.
»Was ist passiert?«
»Ich ging gerade durch die Eingangshalle, um Dr. Masterson wegen irgendetwas zu sprechen, als Betty nach mir rief. Sie arbeitete damals am Empfang und nahm Telefonanrufe entgegen, wie ich schon sagte ... Tommy, Clay, jetzt seid doch mal ein bisschen leiser da drinnen!«
Das Geschrei drang nur noch lauter aus dem Wohnzimmer, und Fernsehsender wurden wie verrückt umgeschaltet.
Mrs. Wilson stand genervt auf und sah nach ihren Söhnen. Ich hörte das gedämpfte Klatschen einer Hand auf Hosenböden, und danach wurde der Sender nicht mehr umgeschaltet. Dafür vernahm ich nun das Tackern eines Maschinengewehrs, mit dem anscheinend Zeichentrickfiguren wild herumballerten.
»Wo war ich stehengeblieben?«, fragte sie, als sie an den Küchentisch zurückkam.
»Sie sprachen gerade von Betty«, erinnerte ich sie.
»Ach ja. Sie rief mich zu sich und sagte, dass Jims Mutter am Telefon sei und dass es sich offensichtlich um ein wichtiges Ferngespräch handele. Ich kannte den Grund des Anrufs nicht, aber Betty bat mich, Jim zu suchen. Er war im Psychodrama, das wie üblich im Ballsaal stattfand. Wissen Sie,
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