Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
wir benutzen den Ballsaal im Valhalla für verschiedene Sachen. Für die Tanzveranstaltungen am Samstagabend, zum Beispiel. Oder für Partys. Es gibt dort eine Orchesterbühne. Alles noch aus der Zeit, als das Valhalla ein Hotel war. Ich schlüpfte also durch die Hintertür hinein, und als ich sah, was sich da abspielte, konnte ich es zuerst gar nicht fassen.« Jeanie Wilsons Augen funkelten vor Zorn. Sie fing an, am Rand eines Untersetzers herumzuzupfen. »Ich rührte mich nicht von der Stelle und sah zu. Jim stand mit dem Rücken zu mir auf der Bühne, auf der sich außer ihm noch fünf oder sechs Patienten befanden. Sie saßen auf Stühlen, die so aufgestellt waren, dass sie nicht sehen konnten, was er mit einer anderen Patientin trieb. Es handelte sich um ein junges Mädchen namens Rita, und sie war vielleicht dreizehn Jahre alt. Ihr Stiefvater hatte sie vergewaltigt. Sie sprach nie und war aufgrund ihrer schrecklichen Erfahrungen stumm geworden. Jim zwang sie gerade, das alles noch einmal zu durchleben.«
»Die Vergewaltigung?«, fragte ich ruhig.
»Der verdammte Bastard. Entschuldigen Sie. Aber ich rege mich immer noch darüber auf.«
»Verständlicherweise.«
»Er behauptete später, dass er nichts unrechtes getan habe. Der verdammte Lügner. Er stritt alles ab. Aber ich hatte es gesehen. Ich wusste genau, was er da machte. Er spielte die Rolle des Stiefvaters, und Rita war vor Angst wie gelähmt, wie festgefroren an ihrem Stuhl. Jim starrte ihr aus nächster Nähe ins Gesicht und sprach mit leiser Stimme auf sie ein. Der Ballsaal hat eine gute Akustik. Ich konnte alles hören. Rita war für ihr Alter körperlich schon sehr gut entwickelt. Jim fragte sie ständig: ›War es das, was er mit dir gemacht hat, Rita?‹ Dabei berührte er sie. Er streichelte sie so, wie es ihr Stiefvater vermutlich getan hatte. Ich schlich mich hinaus.Er wusste nicht, dass ich ihn beobachtet hatte, bis Dr. Masterson und ich ihn ein paar Minuten später zur Rede stellten.«
Ich verstand jetzt, warum Dr. Masterson mit mir nicht über Jim Barnes reden wollte, und vielleicht auch, warum in Al Hunts Krankenakte einige Seiten fehlten. Wenn irgendetwas Derartiges an die Öffentlichkeit gelangte, würde es für das Ansehen der Klinik einen schweren Schlag bedeuten, auch wenn der Vorfall schon etliche Jahre zurücklag.
»Hatten Sie den Verdacht, dass Jim Barnes schon vorher Ähnliches getan hatte?«, fragte ich.
»Einige der gegen ihn erhobenen Beschwerden liefen darauf hinaus«, antwortete Jeanie Wilson mit Zorn in den Augen. »Waren es immer Frauen gewesen?«
»Nicht immer.«
»Hatten sich auch männliche Patienten beschwert?«
»Einer der jungen Männer. Ja. Aber zu der Zeit nahm das niemand ernst. Dieser Patient litt ohnehin an sexuellen Problemen, war vielleicht belästigt worden oder Ähnliches. Er war genau das richtige Opfer für jemanden wie Jim, weil dem armen Jungen niemand auch nur ein Wort geglaubt hätte.«
»Können Sie sich an den Namen dieses Patienten erinnern?«
»Mein Gott.« Sie runzelte die Stirn. »Es ist schon so lange her.« Sie dachte nach. »Frank ... Frankie. Das war’s. Ich erinnere mich, dass einige der Patienten ihn Frankie nannten. Aber ich weiß nicht, wie er mit Nachnamen hieß.«
»Wie alt war er?« Ich spürte, wie mein Herz auf einmal viel heftiger schlug.
»Ich weiß nicht. Siebzehn oder achtzehn.«
»Was können Sie mir sonst noch über Frankie erzählen?«, fragte ich. »Es ist wichtig. Sehr wichtig.«
Ein Küchenwecker klingelte, und sie stand auf, um den Kuchen aus dem Ofen zu nehmen. Weil sie gerade stand, schaute sie auch schnell einmal zu ihren beiden Söhnen hinüber. Als sie zurückkam, runzelte sie die Stirn.
Sie fuhr in ihrer Erzählung fort: »Ich erinnere mich dunkel,dass er gleich nach seiner Aufnahme eine ganze Zeitlang in Backhall bleiben musste, bevor er hinunter in den zweiten Stock auf die Männerstation kam. Er nahm an meiner Gruppe für Beschäftigungstherapie teil.« Während sie nachdachte, berührte sie mit dem Zeigefinger ihr Kinn. »Er war sehr fleißig, daran kann ich mich erinnern. Er machte viele Ledergürtel und Reibebilder. Und er strickte gern, was ein wenig ungewöhnlich war. Die meisten männlichen Patienten wollen nicht stricken. Sie arbeiten zum Beispiel lieber mit Leder oder stellen Aschenbecher her. Er war sehr kreativ und recht geschickt. Und noch etwas fiel mir an ihm auf. Seine Ordnung. Er war zwanghaft ordentlich, säuberte stets seinen
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