Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
ich und nippte an meinem Portwein. »Also, ganz offensichtlich hat Mr. Harper Ihrem Mann von Beryls Büchern erzählt.«
»Ach, du meine Güte!« Sie runzelte die Stirn. »Es ist schon komisch, dass Sie darauf zu sprechen kommen. Ich habe an diese Möglichkeit nie gedacht. Aber Mr. Harper muss es ihm irgendwann einmal erzählt haben. Woher sonst hätte Joe das wissen sollen? Denn gewusst hat er es. Als Flag of Honor erschien, schenkte er mir ein Exemplar davon zu Weihnachten.«
Sie stand wieder auf, suchte in verschiedenen Bücherregalen und brachte mir schließlich einen dicken Band. »Es steht eine Widmung drin«, bemerkte sie stolz. Ich öffnete das Buch und sah in weitausholenden Buchstaben die Unterschrift »Emily Stratton«, vom Dezember vor genau zehn Jahren.
»Ihr erstes Buch«, sagte ich.
»Vermutlich eines der ersten, die sie jemals signiert hat.« Mrs. McTigue strahlte. »Ich glaube, dass Joe es über Mr. Harper bekommen hat. Ja, ich bin mir sicher. Wie sonst hätte er es bekommen können?«
»Haben Sie noch andere signierte Ausgaben?«
»Nicht von ihr. Aber ich habe alle ihre Bücher und habe sie auch alle gelesen, die meisten davon sogar zwei- oder dreimal.« Sie zögerte, und ihre Augen wurden größer. »War es wirklich so, wie die Zeitungen es beschrieben haben?«
»Ja.« Ich sagte ihr nicht die ganze Wahrheit. Beryls Tod war sehr viel brutaler gewesen als alles, was darüber in die Nachrichten gelangt war.
Sie griff nach einem weiteren Käsebiskuit, und für einen Moment schien sie den Tränen nahe zu sein.
»Erzählen Sie mir, was im vergangenen November passierte«, bat ich. »Es ist ja jetzt schon fast ein Jahr her, seit sie vor Ihrer Gruppe gesprochen hat, Mrs. McTigue. Es war für die Daughters of the American Revolution, nicht wahr?«
»Die Lesung fand auf unserem alljährlichen Literatenfrühstück statt. Es ist der Höhepunkt des Jahres, und wir laden einen ganz besonderen Redner dazu ein, einen Schriftsteller – meistens einenberühmten. Da ich damals turnusgemäß den Vorsitz im Komitee innehatte, fiel mir die Aufgabe zu, die Veranstaltung zu organisieren und den Redner zu finden. Ich war von Anfang an für Beryl, aber es gab da eine Reihe von Hindernissen. Ich wusste nicht, wie ich sie ausfindig machen konnte. Sie besaß eine Geheimnummer, und ich hatte keine Ahnung, wo sie lebte, nie im Traum hätte ich daran gedacht, dass sie direkt hier, mitten in Richmond, wohnte. Schließlich bat ich Joe, mir zu helfen.«
Sie zögerte und lachte ein wenig verstört. »Wissen Sie, ich glaube, zuerst habe ich versucht, mir zu beweisen, dass ich die Sache allein erledigen könnte. Und Joe hatte ja so viel zu tun. Nun gut, eines Abends rief er Mr. Harper an, und am nächsten Morgen klingelte mein Telefon. Ich werde nie vergessen, wie überrascht ich war. Es verschlug mir fast die Sprache, als sie mir ihren Namen nannte.«
Ihr Telefon. Bisher hatte ich nie dran gedacht, dass Beryl eine Geheimnummer hatte. In den Berichten von Officer Reed war davon nicht die Rede gewesen. Wusste Marino etwas davon?
»Sie nahm die Einladung an, was mich natürlich sehr freute, und fragte dann das Übliche«, erzählte Mrs. McTigue. »Wie groß die Gruppe voraussichtlich sein werde. Ich sagte ihr, zwischen zwei- und dreihundert Leuten. Um wie viel Uhr und wie lange sie sprechen solle und Ähnliches. Sie war ausgesprochen höflich, wirklich ganz bezaubernd. Aber nicht allzu gesprächig. Und eines war ungewöhnlich: Sie legte keinen Wert darauf, ihre Bücher mitzubringen. Die anderen Schriftsteller bestehen sonst immer darauf, ihre Bücher mitzubringen, müssen Sie wissen. Sie signieren und verkaufen sie hinterher. Beryl sagte, dass sie das nicht mache, und sie verzichtete auch auf ihr Honorar. Es war wirklich sehr ungewöhnlich. Wie nett und bescheiden von ihr, dachte ich.«
»Bestanden die Zuhörer nur aus Frauen?«, fragte ich.
Sie dachte nach. »Ich glaube, ein paar von uns haben ihre Ehemänner mitgebracht, aber in der Hauptsache setzte sich das Publikum aus Frauen zusammen. Das ist fast immer so.«
Das hatte ich mir gedacht. Es erschien mir unwahrscheinlich, dass sich Beryls Mörder an diesem Novembertag unter ihren Bewunderern befunden haben sollte.
»Hat sie eigentlich häufig Einladungen wie die Ihre angenommen?«, fragte ich.
»O nein!«, beeilte sich Mrs. McTigue zu sagen. »Ich weiß genau, dass sie das nicht tat, wenigstens nicht hier bei uns. Sonst hätte ich davon gehört und wäre die Erste
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