Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
noch nicht aufgetaucht? Du meinst, es sei überhaupt nicht in ihrem Haus gewesen? Die Polizei hat es nicht gefunden?«
»Richtig. Das Manuskript, das sie gefunden haben, ist nicht das, von dem du gerade sprichst. Es ist schon alt, höchstwahrscheinlich von einem Buch, das bereits vor Jahren erschienen ist. Außerdem ist es unvollständig, so an die hundert Seiten stark, wenn überhaupt. Es lag in ihrem Schlafzimmer auf der Kommode. Marino hat es mitgenommen, um es auf Fingerabdrücke untersuchen zu lassen, für den Fall, dass der Mörder es in der Hand gehabt hat.«
Mark lehnte sich zurück.
»Wenn ihr es nicht gefunden habt«, fragte er leise, »wo ist es dann?«
»Ich habe wirklich keine Ahnung«, antwortete ich. »Vielleicht hat sie es jemandem geschickt.«
»Besaß sie einen Computer?«
»Ja.«
»Habt ihr die Festplatte überprüft?«
»Ihr Computer hat keine Festplatte, nur zwei Diskettenlaufwerke«, sagte ich. »Marino überprüft die Disketten. Ich weiß nicht, was drauf ist.«
»Das Ganze ergibt doch keinen Sinn«, fuhr er fort. »Selbst wenn sie ihr Manuskript jemandem geschickt haben sollte, hätte sie sich doch vorher eine Kopie davon gemacht. Warum war keine Kopie davon in ihrem Haus?«
»Es ergibt auch keinen Sinn, dass der große Pate Sparacino keine Kopie davon hat«, sagte ich spitz. »Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er das Buch noch nicht gesehen hat. Ehrlich gesagt, ich glaube, dass er mindestens einen Entwurf davon besitzt, wenn nicht sogar die endgültige Fassung.«
»Er behauptet, dass er nichts habe, und ich bin sogar geneigt, ihm das abzunehmen, und zwar aus einem guten Grund. Nach allem, was ich über Beryl weiß, war sie sehr geheimniskrämerisch mit ihrer Arbeit und ließ niemanden, Sparacino eingeschlossen, bevor ein Buch fertig war, einen Blick darauf werfen. Sie informierte ihn am Telefon und in Briefen über den Fortgang der Arbeit. Er behauptet, er habe vor einem Monat das letzte Mal von ihr gehört. Sie hat ihm angeblich gesagt, dass sie dabei sei, das Buch noch einmal durchzusehen, und dass sie es am 1. Januar zur Veröffentlichung fertig haben würde.«
»Vor einem Monat hat sie ihm das geschrieben?«, fragte ich vorsichtig.
»Sie hat ihn angerufen.«
»Von wo aus?«
»Woher soll ich das wissen? Von Richmond aus, nehme ich an.«
»Hat er dir das erzählt?«
Mark dachte einen Moment lang nach. »Nein, er hat nicht erwähnt, von wo aus sie angerufen hat.« Er hielt inne. »Warum?«
»Ach, sie war eine Zeitlang nicht in der Stadt«, erwiderte ich, als wäre es nicht so wichtig. »Ich habe mich nur gefragt, ob Sparacino wusste, wo sie sich aufhielt.«
»Weiß denn die Polizei nicht, wo sie war?«
»Die Polizei weiß auch nicht alles«, sagte ich.
»Das ist keine Antwort.«
»Weißt du, was eine Antwort wäre? Dass ich den Fall überhaupt nicht mit dir besprechen sollte, Mark. Ich habe nämlich schon viel zu viel gesagt, und ich weiß immer noch nicht, warum du dich so dafür interessierst.«
»Und du bist dir nicht sicher, ob ich auch wirklich lautere Motive habe«, vermutete er. »Dass ich dich nicht bloß deshalb zum Essen einlade, weil ich einige Informationen brauche.«
»Um ehrlich zu sein, ja«, antwortete ich und schaute ihm in die Augen.
»Ich mache mir Sorgen, Kay.« Sein Gesicht verriet mir, dass er es ernst meinte, und dieses Gesicht besaß immer noch Macht über mich. Ich konnte meine Augen kaum von ihm abwenden.
»Sparacino führt irgendetwas im Schilde«, sagte er. »Ich möchte nicht, dass er dich ausquetscht.« Er schenkte den Rest des Weins in unsere Gläser.
»Was kann er schon tun, Mark?«, fragte ich. »Mich anrufen und ein Manuskript verlangen, das ich nicht besitze. Na und?«
»Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er weiß, dass du es nicht hast«, entgegnete er. »Das Problem ist nur, dass ihn das überhaupt nicht bekümmert. Natürlich will er das Manuskript. Und er wird es am Ende zwangsläufig auch bekommen, es sei denn, es ist wirklich verlorengegangen. Er ist nämlich ihr Nachlassverwalter.«
»Wie praktisch«, bemerkte ich.
»Ich weiß genau, dass er etwas vorhat.« Mark schien mit sich selbst zu sprechen.
»Was denn? Wieder einen von seinen Publicity-Tricks?«, bot ich ein wenig zu lebhaft an.
Mark nahm einen Schluck von seinem Wein.
»Ich kann mir nicht vorstellen, was er im Schilde führen sollte«, fuhr ich fort. »Jedenfalls nichts, was mit mir zu tun haben könnte.«
»Ich wüsste da etwas«, entgegnete er
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