Flucht - Ein Kay-Scarpetta-Roman
Was hast du denn vor, ihm zu erzählen, Mark?«
»Eine lüge.«
Ich setzte mich auf die Bettkante. Er zog einen Stuhl nahe heran und schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit langsam in seinem Becher herum. Unsere Knie berührten sich fast.
»Ich werde ihm sagen, dass ich versucht habe, in seinem Interesse so viel wie möglich aus dir herauszubekommen«, sagte er.
»Dass du mich benutzt hast«, verbesserte ich ihn, und meine Gedanken verschwammen wie ein schlechter Radioempfang. »Und dass du das nur wegen unserer gemeinsamen Vergangenheit tun konntest.«
»Ja.«
»Und das soll eine Lüge sein?«, fragte ich provozierend.
Er lachte. Ich hatte ganz vergessen, wie sehr ich sein lachen liebte.
»Ich kann das nicht lustig finden«, protestierte ich. Es war heiß in dem Zimmer. Ich spürte, wie sich meine Wangen vom Scotch röteten. »Wenn das eine lüge ist, Mark, was ist dann die Wahrheit?«
»Kay«, sagte er immer noch lächelnd, und seine Augen ließen mich nicht los. »Ich habe dir die Wahrheit schon gesagt.« Er schwieg für einen Moment. Dann beugte er sich zu mir herüber,küsste mich auf die Wange, und ich erschrak darüber, wie sehr es mir gefiel.
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück. »Warum bleibst du nicht hier, wenigstens bis morgen Nachmittag? Vielleicht sollten wir beide morgen früh zu Sparacino gehen und mit ihm reden?«
»Nein«, entgegnete ich. »Genau das will er ja.«
»Wie du meinst.«
Stunden später, als Mark mich verlassen hatte, lag ich wach und starrte in die Dunkelheit. Die kühle Leere auf der anderen Seite des Doppelbettes wurde mir schmerzlich bewusst. Auch früher war Mark nie über Nacht geblieben, und am nächsten Morgen war ich immer durch das Apartment gegangen, hatte verschiedene Kleidungsstücke, schmutzige Gläser, Geschirr und Weinflaschen weggeräumt und die Aschenbecher geleert. Damals hatten wir noch beide geraucht. Wir waren oft bis ein, zwei oder sogar bis drei Uhr morgens zusammengeblieben, hatten geredet, gelacht, getrunken, geraucht und geschmust. Und manchmal hatten wir uns gestritten. Ich hatte diese Debatten, die sich viel zu oft zu einem bösartigen Schlagabtausch auswuchsen, immer gehasst. Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wie du mir, so ich dir. Strafrechtsparagraphen hier gegen große philosophische Wahrheiten dort. Immer hatte ich darauf gewartet, dass er mir sagte, er liebe mich. Er hatte es nie getan.
Am Morgen hatte ich immer dasselbe leere Gefühl gehabt, das ich als Kind gespürt hatte, wenn Weihnachten vorbei gewesen war und ich meiner Mutter hatte helfen müssen, das liegengelassene Geschenkpapier unter dem Baum wegzuräumen. Ich hatte nicht gewusst, was ich wollte. Hatte es vielleicht nie gewusst. Wir hätten nicht zusammenkommen dürfen, denn der emotionale Abstand war einfach zu groß gewesen. Trotzdem hatte ich nichts daraus gelernt, und nichts hatte sich geändert. Hätte er mich in seine Arme genommen, dann hätte ich alle Vernunft über Bord geworfen. Sehnsucht ist nicht rational erklärbar, und meine Sehnsucht nach Wärme hatte nie aufgehört. Jahrelang hatte ich die Vorstellung von seinen Lippen auf den meinen, von seinenHänden und unserem Heißhunger aufeinander nicht mehr heraufbeschworen. Jetzt auf einmal quälte mich die Erinnerung daran.
Ich hatte vergessen, einen Weckruf zu bestellen, und mit dem Einstellen des Weckers auf dem Nachttisch hatte ich mich nicht herumschlagen wollen. Ich hatte meine innere Uhr auf sechs Uhr früh gestellt, und genau um diese Zeit wachte ich auch auf. Ich stand auf und fühlte mich genau so schlecht, wie ich aussah. Auch eine heiße Dusche und sorgfältiges Schminken konnten nicht die gedunsenen, dunklen Ringe unter meinen Augen und meine bleiche Gesichtsfarbe verdecken. Das Badezimmerlicht war brutal und ehrlich. Ich rief bei United Airlines an, und um sieben Uhr klopfte ich an Marks Tür.
»Hi«, strahlte er und sah widerwärtig frisch und gutgelaunt aus.
»Na, hast du’s dir anders überlegt?«
»Ja«, antwortete ich. Der altvertraute Duft seines Rasierwassers ließ meine Gedanken durcheinanderpurzeln wie die bunten Glasstückchen in einem Kaleidoskop.
»Ich wusste es.«
»Und woher wusstest du es?«
»Du hast noch nie vor einem Kampf gekniffen«, sagte er und schaute mich im Wandspiegel an, vor dem er sich gerade seinen Krawattenknotenband.
Mark und ich hatten vereinbart, uns am frühen Nachmittag im Büro von Orndorff & Berger zu treffen. Die Eingangshalle der Kanzlei war groß und
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