Flucht im Mondlicht
scharfen Krallen gejagt wird. Das war kein angenehmes Gefühl.
»Nachforschungen über den Wettbewerb«, erwiderte Anh.
»Ah«, sagte Fadi. Er nahm den Geruch ihres Lippenbalsams mit Wassermelonengeschmack wahr. Lecker , dachte er, dann schlug er verlegen die Augen nieder.
»Alles klar bei dir?«, fragte Anh.
»Ja, mir geht’s gut«, sagte Fadi. Er sah sie an und überlegte sich kurz, ob er ihr von Ike und Felix erzählen sollte. Wozu denn? Sie kann mir eh nicht helfen.
»Okay. Also mein Vater sagt immer, man sollte der Konkurrenz möglichst eine Nasenlänge voraus sein«, sagte sie mit selbstzufriedener Miene. »Gestern ging ich online und suchte nach Informationen über den Fotowettbewerb …« Sie machte eine Pause und lächelte.
»Und?«, fragte Fadi ungeduldig.
»Und ich fand die Namen der vier Jury-Mitglieder.«
»Ist das nicht geschummelt oder so was?«
»Nein«, sagte sie und warf ihr Haar zurück. »Das sind öffentliche Informationen, denn sie stehen auf der Website des Wettbewerbs, bei den Regeln und Durchführungsbestimmungen.«
»Ah«, sagte Fadi beeindruckt.
»Als ich ihre Namen hatte, suchte ich nach weiteren Informationen über sie.«
Fadi beugte sich über den Tisch, um die Ausdrucke vor ein paar Schülern zu verbergen, die gerade hereingekommen waren. Unter ihnen war Ravi aus dem Fotoklub.
»Das ist das erste Jury-Mitglied, Millicent Chao«, flüsterte Anh. Sie blätterte die Ausdrucke durch. »Sie ist die Direktorin des Exploratorium-Museums.«
Fadi betrachtete das lächelnde Gesicht einer Frau mittleren Alters in einem rosaroten Hosenanzug. Ihre ausführliche Biografie war auch dabei. Fadi überflog sie und erfuhr, dass Millicent Chao an der Stanford-Universität Architektur und ostasiatische Geschichte studiert hatte. Sie war verheiratet und hatte eine Tochter, die Tänzerin be im San-Francisco-Ballett war. Es machte ihr Spaß, Uhre n auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen, beim Kochen herumzuexperimentieren und zu gärtnern, insbesondere Bonsai-Bäumchen zu züchten.
Die zweite Seite war die Homepage eines Stadtrats von San Francisco namens Henry Watson. Er sprach fließend Spanisch und Portugiesisch und besaß ein brasilianisches Restaurant im Castro-Viertel. Seine Hobbys waren Lesen, Surfen und Reisen, am liebsten nach Südamerika. Das dritte Jury-Mitglied war Lauren Reed, die Geschäftsführerin der örtlichen Kodak-Niederlassung. Über sie hatte Anh kaum Informationen gefunden, auch kein Foto.
Das letzte Jury-Mitglied war Clive Murray, ein Fotojournalist von der Société Géographique. Er war weltbekannt und hatte unzählige Preise gewonnen. Anh hatte ein paar Seiten über ihn zusammengeheftet, die auch Fotos von ihm enthielten. Fadi las, dass Clives fotografischer Stil sich dadurch auszeichnete, dass er »die Essenz der vielfältigen menschlichen Kulturen, Kämpfe und Freuden einfing«. Er hatte schon überall auf der Welt gearbeitet und über viele Konflikte berichtet – unter anderem über den Iran-Irak-Krieg und die Krisen in Kambodscha, Ruanda und dem Kongo. Und er hatte die Not von Flüchtlingen im Sudan, im Iran, in Indien und in Pakistan dokumentiert.
Großartig , dachte Fadi, als er die Fotos von Clive Murray betrachtete. Einige der ausdrucksvollsten Bilder zeigten Menschen – Kinder beim Spielen, Frauen beim Kochen oder alte Männer, die in Gedanken versunken dasaßen.
Er sah Anh bewundernd an. »Es ist wirklich toll, wie viele Informationen du gefunden hast.« Er wollte ihr die Ausdrucke wiedergeben, aber sie wies sie zurück.
»Das sind Kopien für dich«, sagte sie. »Jetzt müssen wir uns nur noch überlegen, was dieser Jury gefallen würde, um sicherzugehen, dass unsere Fotos bei ihr gut ankommen.«
»Danke«, sagte Fadi. »Du bist genial.« Er packte die Ausdrucke in seinen Rucksack. Ihm schwirrte der Kopf vor Ideen, was er fotografieren könnte.
»Weißt du, ich bekam mit, wie du mit Miss Bethune über Belichtungszeiten, Blickwinkel, Beleuchtung und all diese fotografischen Details geredet hast. Das hörte sich an, als würdest du dich damit auskennen«, sagte sie. »Und ich kann gut recherchieren. Also wie wär’s, wenn du mir beim Fotografieren hilfst und ich dich dafür mit vielen nützlichen Informationen versorge?«
»Gute Idee«, sagte Fadi. Er grinste. »Du findest heraus, was wir am besten fotografieren, und ich zeige dir, wie man es fotografiert.«
»Super«, sagte Anh. »Das klingt nach einem perfekten Plan.«
Fadi warf
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