Flucht im Mondlicht
ihn nicht. Er wollte die beiden Flugtickets nach Indien. Um die zu bekommen, musste er ein Foto schießen, das so originell und beeindruckend war, dass es alle anderen ausstach, die für den Wettbewerb eingereicht wurden. Nach den Regeln konnte man fotografieren, was einem gefiel, und so kreativ sein, wie man wollte. Aber was für ein Bild würde den Wettbewerb gewinnen?
Der Anstifter
Am Ende des Tages wusste Fadi, dass die Welt, wie er sie kannte, nie mehr dieselbe sein würde. Er saß mit Noor und seinen Eltern vor dem kleinen Fernseher und konnte die Augen nicht vom Bildschirm losreißen. Schockierende Bilder von gewaltigen Explosionen flackerten in den ab gedunkelten Raum – orange, goldgelb, schwarz und rau chgrau.
»Das ist furchtbar, einfach furchtbar«, flüsterte Safuna. Sie saß, in ihren Schal eingehüllt, in dem ausgeblichenen braunen Liegesessel. Ihr Blick war auf die beiden majestätischen Türme auf dem Bildschirm geheftet. Flammen schlugen heraus, als die mächtigen Bauwerke aus Stahl, Beton und Glas in sich zusammenfielen. Safuna schloss die Augen und wandte sich ab.
Noor beugte sich vor, um umzuschalten, aber alle Programme wiederholten ständig die Aufnahmen von einem tieffliegenden Flugzeug, das in den zweiten Turm des World-Trade-Centers krachte. »Wie können so solide Gebäude einstürzen?«, fragte sie leise. Ihre Finger berührten leicht den Bildschirm, als versuchte sie zu fühlen, ob es Wirklichkeit war.
»Lass dieses Programm an, Noor, Jan «, sagte Habib.
Der Moderator von CNN hatte eine Runde aus Terrorismusexperten versammelt, die Theorien aufstellten, wer einen so gut geplanten Angriff durchgeführt haben könnte. Es war fast zehn Uhr abends, Zeit für Habib, sich auf den Weg zum Flughafen zu machen, aber es sah so aus, als käme er nicht aus seinem Sessel.
Safuna riss die Augen auf. »Das ist eine schreckliche Tat … so viele unschuldige Menschen sind tot.«
»Wer hat das bloß getan?«, fragte Fadi sich laut. Er lehnte sich zurück, gegen den Liegesessel seiner Mutter, und verschränkte die Arme vor der Brust.
Safuna streckte die Hand hinab und strich ihm seinen zu langen Pony aus den Augen. Ihr Blick klärte sich. »Was für Leute das auch waren, sie haben nicht die geringste Achtung vor dem menschlichen Leben, und worum es ihnen auch geht, für ihre abscheuliche Tat gibt es keine Rechtfertigung.«
Habib nickte. »Das ist ein Akt gegen Allah und die ganze Menschheit. Und er wird bestraft werden.«
Sein grimmiger Ton beunruhigte Fadi. Er griff nach der Hand seiner Mutter und spürte, wie ihre Finger die seinen umschlossen und festhielten.
Am nächsten Tag stand Fadi mit seinem Vater in einem Lebensmittelgeschäft in Klein-Kabul und sah zu, wie lange Bleche mit frisch gebackenem Brot, die fast so groß waren wie er, aus dem Ofen kamen. Er und Habib waren die Fünften in der Schlange von Kunden, die auf Brot fürs Abendessen warteten. Es kribbelte Fadi in der Nase, als er den angenehmen Geruch nach Hefe und Gewürzen einatmete. Er warf einen Blick auf seinen Vater, der besorgt dreinschaute. Habib hatte am Morgen Professor Sahib angerufen und erfahren, dass die Männer, die sie angeheuert hatten, nicht das Geringste über Mariam oder die Familie, mit der sie verschwunden war, herausgefunden hatten. Fünfhundert Dollar für nichts und wieder nichts , dachte Fadi frustriert.
Er zuckte resigniert die Achseln und drehte sich um, um das Angebot im hinteren Teil des Geschäfts zu inspizieren. Sonst hörte man in diesem Laden immer Kunden plaudern und mit dem kleinen weißhaarigen Besitzer scherzen, der auf seinem üblichen Platz neben der Kasse saß. Doch heute war es unheimlich still. Fadis Blick schweifte über das Regal mit den getrockneten Früchten. Da entdeckte er Masud, einen der beiden afghanischen Jungen aus seinem Mathekurs. Masud stand neben einem Tisch, der mit Kuchen und anderem Gebäck überhäuft war. Als würde er spüren, dass jemand ihn ansah, blickte er auf und entdeckte Fadi. Er nickte ihm zu.
Fadi erwiderte den Gruß. Vielleicht sollte ich hingehen und mit ihm reden . Aber das konnte er nicht, da sein Vater eine Dose Bohnen holen gegangen war und er ihren Platz in der Schlange freihalten musste. Zögernd wandte er sich ab und beobachtete ein paar Männer, die vor der Fleischtheke standen und sich mit finsteren Mienen unterhielten.
»Hast du schon das Neueste gehört?«, knurrte einer. Über die rechte Hälfte seines Gesichts verlief eine
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