Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flucht im Mondlicht

Flucht im Mondlicht

Titel: Flucht im Mondlicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N. H. Senzai
Vom Netzwerk:
eilten hinein. Fadi blieb am Eingang stehen, um seine Tennisschuhe aufzubinden. Als er sie ausgezogen hatte, stellte er sie in ein Schuhregal und lief hinein. Die Moschee war erst vor Kurzem eingeweiht worden und in dem großen luftigen Gebetsraum roch es noch nach frischer Farbe.
    »Mein Vater hat Geld für den Bau dieser Moschee gespendet«, flüsterte Salmai stolz.
    Fadi schaute sich um und war beeindruckt. Die afghanische Gemeinde hatte keine Kosten gescheut, um ein majestätisches Bauwerk zu errichten. Im Hauptsaal war Raum für mehr als fünfhundert Menschen und von den hohen Minaretten wurde fünf Mal am Tag zum Gebet gerufen.
    »Da drüben«, flüsterte Habib und deutete nach rechts.
    Onkel Amin hatte es geschafft, ihnen einen Platz freizuhalten, bevor es zu voll wurde. Die drei gingen über den weichen Teppich zu ihm hinüber und ließen sich nieder.
    Der Imam schlurfte in den vorderen Teil der Moschee, zu der nach Mekka ausgerichteten Gebetsnische, die Mih rab genannt wurde. Sein langer buschiger weißer Bart hin g auf die Brust herab und sein kahler Kopf war mit einer Gebetsmütze bedeckt. Der rundliche Mann ließ sich auf einem Gebetsteppich vor der Menge nieder und räusperte sich ins Mikrofon. Das war eine diskrete Aufforderung, still zu sein, bevor er mit seiner Predigt, der Khutba , begann.
    Salmai stupste Fadi an und flüsterte: »Hoffentlich redet er nicht wieder über Käsesocken.«
    Fadi unterdrückte ein Kichern. In der letzten Woche hatte der Vorbeter mehr als eine Stunde lang ausgeführt, dass Allah die Sauberkeit und Reinheit von Leib und Seele liebte. Seine Backen hatten vor Eifer gezittert, während er die Gemeindemitglieder zehn Minuten lang ermahnt hatte, nicht mit stinkenden Socken oder nach einer Mahlzeit mit viel Knoblauch in die Moschee zu kommen, weil solche unangenehmen Gerüche die Gläubigen um sie herum beim Gebet störten.
    Da ist was dran , dachte Fadi mit einem Blick auf die sauberen weißen Socken des Mannes vor ihm. Er rümpfte die Nase. Ich möchte wirklich nicht neben Käsefüßen niederknien .
    »Ich habe mir lange und gut überlegt, über was ich heute sprechen soll«, begann der Imam. Seine sonst lebhafte Stimme klang gedämpft. »Die Ereignisse vom Dienstag gingen mir nicht aus dem Kopf, denn es war ein ganz schrecklicher Tag. Es war ein Tag des Blutvergießens – ein Tag der Gewalt.«
    Eine unbehagliche Stille erfüllte den Raum. Die Zu­hörer saßen schweigend da, viele mit niedergeschlagenen Augen, als würden sie meditieren.
    Nein, diesmal geht es nicht um Käsesocken , dachte Fadi. Aber das wäre mir nun fast lieber .
    »Während ich darüber nachdachte, wer die Täter waren und warum sie diese Taten begingen, kam mir immer wieder eine Sure aus dem Heiligen Koran in den Sinn, und zwar der Vers Nummer zweiunddreißig aus dem fünften Kapitel. Bevor wir über irgendetwas anderes reden, sollten wir, glaube ich, lange und gründlich darüber nach­den­ken, was dieser Vers bedeutet.«
    Der Imam räusperte sich und bald erfüllte melodisches Arabisch, die Sprache des Koran, den Gebetsraum. Der Imam machte eine kurze Pause, dann übersetzte er den Vers:
    »Deshalb haben wir den Kindern Israels verordnet, dass, wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hätte oder ohne dass ein Unheil im Lande geschehen wäre, es so sein soll, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, es so sein soll, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.« 1
    1 Übersetzung nach M.A. Rassoul, Die ungefähre Bedeutung des Al-Qur’an Al-Karim in deutscher Sprache. Marburg, 1997.
    Nach der Übersetzung schwieg der Imam und ließ die Worte zehn Sekunden lang in dem riesigen Raum hängen.
    »Brüder und Schwestern, der Koran sagt also, wenn wir einen Menschen töten, dann ist das, als hätten wir die ganze Menschheit getötet, und wenn wir einen Menschen retten, dann ist das, als hätten wir die ganze Menschheit gerettet. Das ist der Punkt, den wir verstehen müssen. Wer tötet, hört auf, ein wahrer Mensch zu sein.«
    Fadi stand ganz benommen da, als die Eingangstür des Spielzeuggeschäfts hinter ihnen zuglitt. In Gedanken war er immer noch in der Moschee und bei der Predigt des Imam. Sie hatte ihn daran erinnert, wie wichtig und wertvoll ein Menschenleben war. Unbehagen überkam ihn, als er in das riesige Geschäft blickte. Aus einem Regal mit Stoffzirkustieren starrten ihn Dutzende von Knopfaugen

Weitere Kostenlose Bücher