Flucht im Mondlicht
an.
»Komm schon, Fadi«, drängte Salmai und schob seinen Vetter an den Grußkarten und dem Geschenkpapier vorbei.
Kopfschüttelnd wandte Fadi den Blick von den Stofftieren ab. In seinem ganzen Leben hatte er noch nie so viel Spielzeug gesehen. Lange Regale mit allen möglichen Spiel en, Puzzles und technischem Schnickschnack erstre ckten sich in alle Richtungen. Er stand wie gelähmt am Ende eines Ganges und wusste nicht wohin.
»Du bekommst auch etwas, Fadi, Jan «, sagte Habib. »Aber nur etwas Kleines«, fügte er augenzwinkernd hinzu.
»Da lang«, sagte Salmai. Er zog Fadi an der Modelleisenbahn vorbei.
Fadi wollte stehen bleiben, um sich die kunstvoll angelegte Miniaturlandschaft aus verzweigten Gleisen, Ortschaften, Brücken und einem Wasserturm anzuschauen, aber Salmai eilte zielstrebig weiter.
»Onkel Habib, wir gehen in die Elektronikabteilung«, rief er.
Habib lächelte und winkte ihnen nach.
Sie liefen zwischen weiteren Regalen mit Puzzles hindurch, dann an den Fahrrädern und Sportgeräten vorbei. Kinder rannten durch das Geschäft, warfen einander Bälle zu und lachten ausgelassen. Ein kleines Mädchen zottelte hinter seiner Mutter her, die mit Prinzessinnenkleidern, Tanzschuhen und einem funkelnden Diadem beladen war.
Fadi geriet kurz ins Stolpern, als er das knallrosa Kleid des Mädchens sah. Mariams Lieblingsfarbe .
»Da«, sagte Salmai. Er zog Fadi in die Abteilung mit den Videospielen.
Fadi blinzelte nervös, wandte sich von dem Mädchen ab und sah die Augen seines Vetters aufleuchten, als er das Regal mit den Neuerscheinungen erblickte.
»Mann, die brandneue Version von Super Mario!«, rief Salmai atemlos. »Und Space Invaders 5! Das wird dir gefallen. Ich habe es letzte Woche bei einem Freund gespielt.«
Salmai lief vor den Regalen auf und ab, nahm verschiedene Spiele heraus und las die Beschreibungen und Kritiken.
Fadi wurde es nach ein paar Minuten langweilig. »Ich geh mir noch ein paar andere Sachen anschauen. Dann komme ich hierher zurück«, rief er Salmai zu.
Salmai winkte ihm zerstreut zu, während er mit einem Verkäufer über die Vorzüge von Myst gegenüber Civilization fachsimpelte.
Fadi wanderte zwischen den Regalen mit den Stofftieren hindurch und staunte, wie lebensecht sie aussahen. Er tätschelte einen elektronischen Hund, der mit dem Schwanz wedelte und bellte. Er kam an Action-Figuren von Comic-Superhelden vorbei, die er teilweise aus den samstagmorgendlichen Zeichentrickserien kannte. Er blie b vor den X-Men-Figuren stehen und betrachtete sie. Sie gefielen ihm, aber nein, dafür wollte er kein Geld ausgeben. Auf der Suche nach dem Regal mit den Brettspielen bog er um eine Ecke und blieb abrupt stehen.
Von beiden Seiten des Ganges starrten Hunderte von Barbies auf ihn herab. Fadi schloss die Augen. Ihn fröstelte und seine Hände wurden taub. Er verspürte plötzlich großen Durst und schluckte. Seine Augenlider zuckten auf. Die Cowgirl-Barbie starrte ihn vorwurfsvoll an. Neben ihr standen mit finsteren Verschwörermienen die Ärztin-Barbie und die Malerin-Barbie, die einen Pinsel in der Hand hielt. Fadis Brust schnürte sich zusammen. Er schlug die Augen nieder. Im untersten Regal waren Barbies aus aller Welt versammelt. Eine indianische, eine koreanische, eine spanische, eine nigerianische und eine österreichische Barbie tuschelten miteinander … über Gulmina.
Die verdrängten Erinnerungen brachen über Fadi herein wie eine Sturzflut, in der er zu ertrinken drohte. Er stolperte vorwärts. Er musste aus diesem Gang herauskommen. Er bat seine bleischweren Beine, ihm zu gehorchen, aber die Reihen der Barbies schienen immer länger zu werden, kilometerlang. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. Er schluckte. Rosa. Es gibt so viele Arten von Rosa … Die Strand-Barbie trug ein lachsfarbenes Handtuch. Die Filmstar-Barbie fuhr einen fuchsiaroten Jeep. Die Ballerina-Barbie wirbelte in einem zartrosa Tüllröckchen herum. Ein Bild drängte sich ihm in den Kopf. Er sah Mariam vor sich, wie sie ihm Gulmina entgegenstreckte und ihn bat, sie in seinen Rucksack zu packen. Und ich habe es nicht getan . Dann hatte er das Motorengeräusch eines Lastwagens im Ohr und konnte fast spüren, wie Mariams Fingerchen ihm aus der Hand glitten.
Plötzlich wurde ihm heiß vor Wut. Hasserfüllt starrte er eine lächelnde Barbie in einem luftigen lavendelfarbenen Kleid an und seine Hände ballten sich zu Fäusten. Es ist ihre Schuld! Er hörte einen Schrei durch das
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