Flucht im Mondlicht
Sie haben ihn total kaputt gemacht.«
Habib nahm den Fotoapparat und kniete sich hin. »Mach dir deswegen keine Sorgen, Fadi, Jan . Die Hauptsache ist, dass du nicht ernsthaft verletzt bist.«
Noors Augen verengten sich. »Wollten sie dich ausrauben?«
Fadi blinzelte. »Nein«, murmelte er.
»Haben sie dich beschimpft?«, fragte Noor weiter.
»Ja«, erwiderte Fadi. »Sie sagten, ich sei ein Terrorist.«
Stille senkte sich über den engen Raum.
»Gewalt ist keine Antwort, Fadi. Sie löst kein Problem«, sagte Habib schließlich.
Safuna schüttelte zornig den Kopf und stand auf. Sie nahm Wattebällchen aus einem Behälter neben dem Waschbecken und griff nach der Flasche mit dem Desinfektionsmittel.
»Ich weiß, Vater«, sagte Fadi. Wut flammte in ihm auf. Ike und Felix hatten ihn angegriffen, obwohl er ihnen nicht das Geringste getan hatte. Er wollte, dass sie genauso litten wie er.
» Wer waren die beiden?«, fragte seine Mutter. Sie tupft e ihm das Gesicht mit einem Wattebällchen ab, das mit Desinfektionsmittel getränkt war.
Fadi zuckte zusammen, weil es brannte. »Ich weiß es nicht«, log er. Ich kann es ihnen nicht sagen. Vater wird mich in die Schule schleifen, und wenn ich die beiden verpetze, bin ich unten durch. Dann werde ich erst recht Dresche kriegen .
»Bist du dir sicher?«, fragte Noor. »Hast du sie schon mal in der Schule gesehen?«
»Die Schule ist sehr groß«, murmelte Fadi. »Ich habe sie vorher noch nie gesehen.«
Seine Gedanken schweiften zum Fotowettbewerb, während die drei sich um ihn kümmerten. Wie sollte er ohne einen Fotoapparat daran teilnehmen? Er hatte nur noch sechs Tage, um das beste Foto einzureichen.
»Dein Gesicht sieht immer noch schlimm aus«, flüsterte Noor. Sie saß neben Fadi auf dem Rücksitz des Taxis, während Habib die Thornton Avenue hinunterfuhr. »Ich hätte etwas Abdeckcreme draufmachen sollen.«
»Auf keinen Fall«, murrte Fadi. »Bleib mir bloß weg mit Make-up.« Er tastete vorsichtig seine geschwollene Lippe ab und stieß die angehaltene Luft aus. Es war der Hochzeitstag ihrer Eltern, und Habib hatte Safuna ausnahmsweise nicht aus dem Bett holen müssen, um die Familie zum Abendessen auszuführen. Es schien so, als wäre der Überfall auf Fadi die Medizin gewesen, die seine Mutter gebraucht hatte, um die Schwermut abzuschütteln, die sie gelähmt hatte. Fadi war froh, dass sie aus ihrer Depression herauskam, aber er war nicht in Feierlaune.
Zwei Tage waren vergangen, seit er nach der Prügelei auf dem Schulparkplatz zerschunden nach Hause gekommen war. Vor achtundvierzig Stunden hatten Felix und Ike seinen Fotoapparat kaputt gemacht und damit seine Chance, den Wettbewerb zu gewinnen und Mariam zu fin den. Eins steht fest: Ich bin ein totaler Verlierer ohne Ehre . Er kochte vor Wut und dürstete nach Badal . Es war ihm egal, was sein Vater sagte. Ike und Felix hatten ihm etwas Wertvolles weggenommen, und er wollte sich dafür rächen.
Habib hielt neben einem Restaurant namens Khaiberpass. Es stellte sich heraus, dass dessen Besitzer Gul Khan zusammen mit Habib an der Universität von Kabul Biochemie studiert hatte. Sie waren einander beim Freitagsgebet über den Weg gelaufen und hatten seither wieder Kontakt. Gul Khan war schon vor Jahren nach Kalifornien gekommen und hatte in einer Seitenstraße des Peralta Boulevard in Klein-Kabul das kleine familienbetriebene Restaurant eröffnet.
Als Fadi seiner Familie hineinfolgte, wurden sie von einem kleinen lächelnden Mann mit einem geschwungenen Schnurrbart begrüßt. Er lief auf sie zu und umarmte Habib herzlich.
Das muss Gul Khan sein , dachte Fadi. Er sah sich in dem gemütlichen Lokal um. Es war mit rot-schwarzen afghanischen Teppichen ausgelegt. An den Wänden hingen Gemälde von afghanischen Landschaften und eine Stereoanlage hinter dem Tresen spielte leise traditionelle afghanische Musik.
» Salam alaikum , Bruder Habib, Schwester Safuna«, sagte Gul Khan. »Willkommen in meinem bescheidenen Restaurant. Und das müssen eure schönen Kinder sein.«
Fadi senkte den Kopf und murmelte seine Salams .
Gul Khan führte sie an einen der sechs Tische in dem fast leeren Restaurant. Die einzigen anderen Gäste waren ein älteres amerikanisches Ehepaar, das durch dicke Brillen die laminierte Speisekarte studierte.
»Das Geschäft läuft zurzeit schlecht«, seufzte Gul Khan. »Ihr wisst ja …«
Alle nickten. Sie wussten warum.
»Wenigstens ist mein Laden sicher«, fügte Gul Khan leise
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