Flucht im Mondlicht
möchte trotzdem an dem Fotowettbewerb teilnehmen.«
»Du kannst dir den schuleigenen Fotoapparat ausleihen, den der Fotoklub zum Üben benutzen darf«, sagte Miss Bethune. Sie schloss ihre Schreibtischschublade auf und nahm den Fotoapparat heraus.
»Nein danke, den werde ich nicht brauchen«, sagte Fadi. Der Fotoapparat des Fotoklubs funktionierte nicht richtig, da im Laufe der Jahre so viele Schüler an ihm herumgefummelt hatten. »Ich wollte nur um etwas mehr Zeit bitten, wenn das möglich wäre.«
»Also ich wollte die Bilder am Donnerstag nach der Schule einsammeln, um das Päckchen fertig zu machen und es am Freitag abzuschicken.«
»Könnte ich Ihnen mein Foto am Freitag vorbeibringen? Ich wurde doch für drei Tage vom Unterricht ausgeschlossen, und wenn ich zurückkomme, brauche ich einen Tag, um die Negative zu entwickeln und in der Dunkelkammer Abzüge zu machen. Und die müssen ja auch noch trocknen.«
»Na ja, in Anbetracht der Umstände ginge das wohl in Ordnung. Aber ich brauche dein Bewerbungsformular und dein Foto bis spätestens Freitagnachmittag nach Schulschluss.«
»Vielen Dank, Miss Bethune«, sagte Fadi freudestrahlend. Nun musste er eine gute Freundin um einen Gefallen bitten und sich überlegen, was er fotografieren wollte.
Am Abend, als die Familie beim Essen saß, stocherte Fadi mit seinem Brot in seinem Hühnereintopf herum. Er warf einen verstohlenen Blick auf das müde Gesicht seines Vaters und empfand eine Mischung aus schlechtem Gewissen und Scham.
Nach der Unterredung mit Direktor Hornstein hatte Habib Fadi heimgefahren. Als er an einem Bahnübergang anhalten musste, fragte er seinen Sohn, was eigentlich geschehen war. Da erzählte Fadi ihm alles, auch von Felix. Habib schüttelte traurig den Kopf und fragte Fadi, ob er Direktor Hornstein nicht doch lieber die Wahrheit sagen wollte. Fadi erklärte ihm, warum er das nicht tun konnte, und zu seiner Überraschung akzeptierte Habib seine Entscheidung.
Er weiß, dass es eine Frage der Ehre ist , dachte Fadi und fühlte sich noch mieser. Er beobachtete seine Mutter, die mit ernster abwesender Miene den Joghurt umrührte. Fadi wusste, dass sie an die jüngsten Bombenangriffe auf O stafghanistan dachte, über die alle Fernsehsender beri chtet hatten. Um Safuna nicht noch mehr zu belasten, wollte Habib ihr nicht erzählen, dass Fadi vorübergehend vom Unterricht ausgeschlossen wurde. Das sollte ein kleines Geheimnis zwischen ihm und seinem Sohn bleiben. Fadi würde die nächsten zwei Tage in der Bücherei von Fremont verbringen und den versäumten Stoff nachholen.
Fadi blickte über den kleinen Esstisch und musste grinsen, als Noor ihm zuzwinkerte. Einen Augenblick lang fühlte er sich trotz aller Sorgen glücklich. Er war dankbar für seine Familie, dankbar, dass sie in Sicherheit waren. Er sah, wie sein Vater seiner Mutter die Hand drückte und wie sie ihn daraufhin leise anlächelte. Er kaute an einem Stück Brot und schmunzelte. Nun wusste er genau, was er fotografieren würde.
Porträts
Die Dämmerung brach herein und tauchte den Garten hinter dem Haus in ein weiches rötliches Licht. Während die Schatten auf dem Boden länger wurden, machte Fadi sich hastig bereit. Ihm blieb nur eine halbe Stunde, um das Bild vor seinen Augen einzufangen. Er drückte den Entriegelungsknopf auf der rechten Seite des Fotoapparats und öffnete die Rückwand. Dann legte er einen neuen Film ein und fädelte ihn in die Aufwickelspule. Er hielt kurz inne und fuhr mit einem Finger die eleganten Formen des glänzenden Fotoapparats nach, der ganz anders aussah als seine alte ramponierte Minolta. Er warf einen dankbaren Blick zu Anh hinüber, die ihm half, die Fotosession zu organisieren.
Ich darf keine Zeit vergeuden . Er klappte die Rückwand des Fotoapparats zu und stellte die Belichtungszeit und die Blende ein, die die Lichtmenge regulierte, der der Film ausgesetzt wurde. Aufnahmen zu dieser Tageszeit waren heikel. Er brauchte künstliches Licht, um das schwindende Sonnenlicht auszugleichen. Mit Tante Nilufers Erlaubnis hatten Fadi und Salmai zwei hohe Lampen in den Hof geschleppt. Salmai hatte sie angeschlossen und rechts hinter Fadis Rücken aufgestellt. Das leicht schräg herabfallende Licht der Lampen ergänzte das Licht der sinkenden Sonne und erzeugte sanfte Schatten um Fadis Modelle.
Fadi warf Anh ein dankbares Lächeln zu, als sie ihr Stativ aus ihrem Matchsack zog. Sie war eine Viertelstunde früher gekommen und hatte ihren
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