Flucht im Mondlicht
den Rucksack und schüttelte ihn heftig, sodass Fadis Sachen herausfielen – zuerst die Fotobücher, dann sein Federmäppchen und die Honigbüchse.
»Nein!«, kreischte Fadi entsetzt, als zum Schluss auch seine Minolta XE herausgeschleudert wurde. Wie in Zeitlupe segelte der Fotoapparat durch die Luft und schlug knirschend auf dem Asphalt auf. Bruchstücke flogen in alle Richtungen und die Linse bekam einen großen Sprung.
Neiiin! Ich muss doch diesen Wettbewerb gewinnen! Blinde Wut packte Fadi und verlieh ihm neue Energie. Er sah Mariams Blechbüchse auf dem Boden liegen und stieß ein tiefes animalisches Knurren aus. Dann drehte er sich um, packte Ike bei den Schultern und zog ihn mit überme nschlicher Kraft herunter. Bevor Felix reagieren kon nte, warf er Ike mit den Beinen zu Boden und hockte sich auf den Bauch des Rotschopfs.
»Wie konntet ihr das tun?«, brüllte er. Tränen der Wut tropften ihm von den Wimpern. Er schlug mit geballten Fäusten nach Ike und landete ein oder zwei Treffer, bevor Felix ihn wegzog. Fadi wand sich in seinem Griff, beugte sich zur Seite und biss ihn ins Schienbein.
»Aua!«, schrie Felix. Er ließ Fadi fallen wie eine heiße Kartoffel und hielt sich das Bein. Fadi sprang auf und stieß Felix den Kopf in den Magen, sodass dem Jungen die Luft wegblieb. Beide purzelten zu Boden und rangen miteinander.
»Na warte, du kleiner …«, brüllte Ike und packte Fadis Beine. Doch Fadi ließ Felix nicht los, und bald bildeten alle drei ein Knäuel aus Armen und Beinen, das auf dem Parkplatz herumrollte. Fadi spürte, wie ein Schlag seinen Kiefer traf. Im selben Augenblick hörte er eine Tür klappern und aufgehen.
»Hört sofort auf!«, befahl eine zornige Stimme.
Durch eine Lücke zwischen einem Bein von Felix und einem Ellbogen von Ike erhaschte Fadi einen Blick auf den alten weißhaarigen Hausmeister. Der Mann ließ seine Mülltüten fallen und eilte auf die drei zu.
»Auseinander, ihr Raufbolde, sofort!«, schnaubte er.
»Lass uns abhauen, Mann«, keuchte Ike. Er versetzte Fadi einen letzten Stoß in die Rippen und rappelte sich hoch.
Als Felix ebenfalls aufstehen wollte, hielt Fadi ihn am Bein fest.
»Lass mich los, du Scheißkameltreiber!«, schrie Felix.
Der Hausmeister hatte die beiden fast erreicht, als Felix sich losriss und Ike nachrannte, der über den hinteren Zaun geklettert war. Fadi sah nur noch seinen Fotoapparat zertrümmert am Boden liegen. Er ist kaputt , dachte er verzweifelt.
»Ich werde diesen Vorfall Direktor Hornstein melden müssen«, sagte der Hausmeister und beäugte Fadi misstrauisch. »Schlägereien auf dem Schulgelände sind eine ernste Angelegenheit, junger Mann.«
Fadi nickte. Es war ihm egal, wie viel Ärger er bekommen würde. Er zeigte dem Hausmeister seinen Ausweis, behauptete jedoch, die Namen der beiden anderen Jungen nicht zu kennen. Als der Hausmeister zu seinen Mülltüten zurückkehrte, las Fadi seine Sachen auf, auch die Trümmer seines Fotoapparats, und machte sich auf den Heimweg.
Der 7. Oktober
Noor fand Fadi hinter dem Duschvorhang im dunklen Badezimmer, in das er sich verkrochen hatte. Er hockte in der Wanne, mit seinem kaputten Fotoapparat im Schoß. Sie schaltete das Licht an und beugte sich über den Wannenrand. Ihre Augen weiteten sich, als sie Fadis verschwollenes Gesicht sah. Als sie dann noch Blutflecken auf seinem T-Shirt entdeckte, schrie sie auf. Sekunden später platzten ihre Eltern in den vollgestopften, orange gefliesten Raum.
»Oh, Allah sei uns gnädig!«, rief Safuna aus. Sie drängte sich an Noor vorbei und kniete sich neben die Badewanne. Habib blieb hinter ihr stehen.
Safuna und Noor zogen Fadi aus der Wanne und setzten ihn auf die Toilette.
»Was ist passiert?«, fragte Habib.
Fadi stand immer noch unter Schock und spürte den Schmerz kaum, als seine Mutter sein Gesicht umfasste und ins Licht drehte.
»Zwei Jungen fielen über mich her, als ich aus der Schule kam«, erwiderte er.
»Wenn ich diese Burschen in die Finger kriege …«, schim pfte Safuna mit zornfunkelnden Augen. Dann wurde ihre Miene sanfter und sie küsste Fadi auf die Nasenspitze.
Mit zusammengepressten Lippen durchsuchte Habib den Medizinschrank. Er nahm Verbandsmaterial und eine dunkle Flasche mit Desinfektionsmittel heraus und stellte beides auf die Ablage über dem Waschbecken.
Fadi blickte mit verweinten Augen zu seinem Vater auf und hielt ihm mit zitternden Händen den Fotoapparat hin. »Sie haben ihn kaputt gemacht, Vater.
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