Flucht in die Hoffnung
und wählte mit zitternden Fingern
die Nummer von Tarek, dem ältesten Bruder Farids, der mir schon mehrmals als
Retter in größter Not geholfen hatte.
»Farid ist verrückt geworden! Er rammt unseren Wagen!«, schrie ich. »Du musst sofort kommen!«
Farid hatte den Motor abgestellt und musterte mich hasserfüllt. So
saßen wir uns gegenüber. Fünf, zehn Minuten lang. Jeder in seinem Auto. Emira
weinte fürchterlich, ich konnte sie nicht trösten. Wäre sie doch niemals Zeuge
einer solchen Szene geworden, dachte ich panisch.
Endlich kam Tarek und sprach durch das Autofenster beruhigend auf
Farid ein. Ich wünschte mir nur eines: Er sollte endlich verschwinden, und um
ihm das zu ermöglichen, setzte ich zurück und machte den Weg frei. Farid
startete den Wagen und verließ unser Grundstück mit Vollgas. Tarek folgte ihm
in seinem Wagen. Am nächsten Morgen lag mein Hunderteuroschein auf dem Tisch.
Ich war froh, ihn wiederzuhaben, dieses kleine Stückchen Freiheit.
Doch in Wahrheit zog sich das Netz des Horrors immer enger um mich zusammen.
Zwei Tage später untersagte Farid mir, mit meiner Familie zu
telefonieren. Er nahm mein Handy, öffnete es, zog die SIM -Card
heraus und knickte sie.
»Weil ich dir nicht vertrauen kann«, ließ er mich mit kummervollem
Gesichtsausdruck wissen und verließ das Haus gut gelaunt.
Fünf Stunden später schob mir Mohamed in seinem Laden einen kleinen
Zettel zu, als Emira und ich Elsa nach einem Spaziergang zurückbrachten.
»Was ist das?«, fragte ich ihn.
»Meine Telefonnummer. Wenn du mal Hilfe brauchst.«
Ich lernte die Nummer auswendig. Farid kontrollierte nicht nur mein
Handy, sondern auch meine Handtasche.
DER ANFANG VOM ENDE
Die Stimmung bei uns zu Hause war zum Schneiden. Doch ich
hatte noch keinen Ausweg gefunden, denn wohin sollte ich? Ich hatte keine
Wohnung, kein Geld, keinen Job. Wenn ich länger über meine Situation
nachdachte, verzweifelte ich. Wie ein gefangenes Tier fühlte ich mich. Alles,
was mir blieb, war die Hoffnung, dass sich unser Leben doch noch irgendwie zum
Guten wenden würde. Wir könnten uns arrangieren. Zu Freunden werden. Warum auch
nicht? Doch ich glaubte selbst nicht daran. Mein Gottvertrauen hatte mir schon
so oft geholfen – warum nicht auch diesmal? Und ganz verlassen war ich doch
noch nicht. Wenn ich meine Tochter betrachtete, ging mir das Herz auf, und ich
erkannte, dass alles gar nicht so schlimm war, solange sie bei mir war. Was
wollte ich denn mehr vom Leben, als die Mutter dieses wundervollen Kindes zu
sein?
Längst herrschte zwischen Emira und mir eine besondere Vertrautheit.
Vielleicht waren es die Monate in Deutschland, die wir allein verbracht und die
uns zusammengeschweißt hatten. Vielleicht waren es auch unsere Ausflüge mit
Elsa … in gewisser Weise hatten wir uns verschworen, und manches Mal musste ich
an die Beziehung zu meiner Mutter denken. Auch wir waren eng vertraut gewesen,
nur hatte ich einen liebevollen und fürsorglichen Vater und keine Bastion mit
meiner Mutter bilden müssen, um uns zu schützen.
Auf das, was mit Farid geschah, hatte mich das Leben nicht
vorbereitet. Dieser Hass, der in ihm steckte … den konnte ich nur schwer
fassen. Und er vergiftete auch mich.
Ich stand in der Küche und bereitete das Mittagessen vor, als
ich Farids Schritte auf der Treppe hörte. Er ging nicht, er stampfte. Jede
Bewegung, die er machte, war laut, besitzergreifend, aggressiv.
»Ich bin da!«, rief er überflüssigerweise.
Knallte die Flurtür zu. Dann die Badtür. Er konnte Türen nicht normal
schließen. Was war überhaupt normal an diesem Mann?
Knall, die Wohnzimmertür. Er griff nach meinem Handy auf dem Regal
und kontrollierte meine Anruflisten, das machte er täglich, so wie andere Leute
ihre Post durchgehen, wohl gemerkt: ihre, nicht die von Familienangehörigen.
Niemals wäre das in meiner Familie vorgekommen.
»Du hast mit niemandem telefoniert?«,
fragte er mich. »Auch nicht mit deiner Familie? Oder hast du dir ein zweites
Handy zugelegt? Wie viele SIM -Cards bunkerst du?
Ich bin nicht blöd, weißt du.«
Die Luft um ihn flirrte. Alarmstufe rot. Emira stürmte in die Küche.
»Mama, schau mal!« Sie wollte mir irgendetwas zeigen,
blieb dann aber abrupt stehen, als sei sie gegen eine Wand gelaufen.
Da packte Farid sie, hob sie grob in die Luft. Sie strampelte und
schrie, aber Farid trug sie bis zu ihrem Zimmer, wo er sie auf das Bett
schleuderte. Er schloss die Tür ab.
Ich war ihm nachgelaufen und
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