Flucht in die Hoffnung
Lippen aufeinander. Was war nur mit ihr los? So
kannte ich sie gar nicht. Waren plötzlich Erinnerungen zurückgekehrt, die sie belasteten?
»Vermisst du deinen Papa?«, fragte ich.
Erneut schüttelte sie den Kopf.
Ich beschloss, sie in den ersten Tagen in die Vorschule zu
begleiten, um ihr ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln. Doch Emira weigerte
sich, das Klassenzimmer zu betreten. Stur blieb sie im Innenhof des Gebäudes
stehen. Es half kein Bitten und kein Betteln, kein Drohen und Locken. Was
fehlte ihr? War sie überfordert? Ich kam nicht an sie heran.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Und das setzte mich unter noch
größeren Druck, obwohl ich selbst schon unter extremem Druck stand. Ich war
völlig auf mich gestellt in diesem fremden Land und musste es irgendwie auf die
Reihe bekommen, unseren Lebensunterhalt zu bestreiten. Stets und überall musste
ich einen seriösen Eindruck erwecken, in der Hoffnung, dass mir das Sorgerecht
zugesprochen wurde, wenn ich von Farid geschieden wäre. So sah die Reihenfolge
aus: erstens Scheidung, zweitens Sorgerecht. Diese beiden Punkte beschäftigten
mich inzwischen Tag und Nacht. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Wie sollte
ich das alles schaffen? Ich sah keinen Ausweg. Manchmal wäre ich am liebsten in
die Wüste gegangen und dann immer weiter geradeaus. Nie zuvor in meinem Leben
hatte ich mich so erschöpft, so kraftlos und ohnmächtig gefühlt. Und das
Schlimmste war, dass ich wusste, ich durfte nicht schwach sein. Emira brauchte
mich. Gerade jetzt musste ich stark sein, an ihrer Seite stehen.
Doch ich war an einer Grenze angelangt. Alles überforderte mich. Ich
brauchte Möbel, und nicht nur das. Es fehlte an allen Ecken und Enden. Doch wo
sollte ich Arbeit finden? Und wohin mit Emira, wenn ich Arbeit gefunden hätte
und sie nicht in die Vorschule gehen wollte? Zudem litt ich unter meinem
Alleinsein, es war nicht leicht, alles mit mir selbst abzumachen. Mohamed
durfte ich nicht sehen, darauf wartete Farid doch bloß, womöglich ließ er mich
schon wieder beschatten. Aber Mohamed hätte mir Kraft gegeben, die ich an Emira
hätte weitergeben können. Unsere wenigen heimlichen Treffen vermittelten mir
keine Sicherheit, sie schürten die Angst erst recht, da wir uns ständig
beobachtet fühlten.
Ich überlegte hin und her. Ohne Arbeit kein Sorgerecht, so viel war
klar. Wie ich es auch drehte und wendete, ich brauchte jemanden, der Emira betreute.
Mohameds Familie schied aus, das hätte vor Gericht einen falschen Eindruck
erweckt. Auch wenn sie am liebsten bei Nawres und dort bestens aufgehoben wäre,
würde Farid niemals seine Tochter von Mohameds Familie betreuen lassen. Das
ließe sein Stolz nicht zu. Wer also blieb? Die wenigen Freunde, die ich noch
aus meiner Reiseleiter-Zeit hatte, waren allesamt berufstätig, das kam nicht
infrage. Aber sonst gab es in Tunesien doch niemanden, dem ich sie anvertrauen
konnte …
Und wenn ich Emira zu Farids Familie nach M’Saken brachte? Mit ihren
Cousinen und Cousins hatte sie sich gut verstanden, dort wäre sie unter Kindern
und somit nicht allein. Außerdem würde ich auf diese Weise meine
Kooperationsbereitschaft zeigen. Das Gericht könnte mir kaum vorwerfen, ich
würde das Kind seinem Vater entziehen wollen, wenn ich es freiwillig zu seiner
Familie brachte. Vielleicht war das die beste Lösung?
Es war die einzige Lösung.
Ich erklärte Emira die Lage. »Bist du einverstanden?«
Emira nickte. Sie war fünf Jahre alt und hatte mit der Familie ihres
Vaters keine schlechten Erfahrungen gemacht.
Schweren Herzens fuhr ich die 500 Kilometer in den Norden und
brachte Emira zu ihren Großeltern. Ich sagte ihnen die Wahrheit: dass ich Hilfe
brauchte, denn ich musste mir eine Arbeit suchen, da ich auf eigenen Beinen
stehen musste und mich nicht auf Farids sporadische Unterhaltszahlungen
verlassen konnte. Farids Mutter brach in Tränen aus und ich ahnte, dass auch
sie wahrscheinlich kaum Geld von Farid bekam, obwohl die Familie es so dringend
benötigt hätte, wie die sehr einfachen Lebensbedingungen erahnen ließen. Wir
trösteten uns gegenseitig, und zum ersten Mal, seit ich Farids Familie kannte,
fühlte ich mich dort aufrichtig willkommen und angenommen. Vielleicht hatte ich
sie ja manchmal falsch eingeschätzt. Im Grunde genommen waren es doch ganz
liebe Menschen, und sie würden gut für Emira sorgen.
Der Abschied von meiner Tochter war sehr hart für mich. Doch ich sah
keinen anderen Weg, und als Farid kurz
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