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Flucht in die rote Welt

Flucht in die rote Welt

Titel: Flucht in die rote Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John D. MacDonald
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Herzanfall erlitt. Das Schweigen war so vollkommen, daß er das Blut in seinen Ohren rauschen hörte. Jeder vernünftige Gedanke wurde von einer primitiven, unerklärlichen Angst ausgelöscht.
    Er sprang auf, keuchend und zitternd, und riß sich die Sonnenbrille von den Augen. Er spürte einen sonderbaren Widerstand, als er sich erhob – so als werde er von einem unsichtbaren Wind zurückgedrängt. Die Welt war still. Ohne die Sonnenbrille sah er sie in einem blassen Rot. Er hatte sie schon einmal so gesehen, als er durch eine Linse mit Rotfilter geblickt hatte. Aber damals hatten sich die Gestalten wenigstens bewegt. Jetzt standen sie wie versteinert in einer rosa Wüste.
    Eine einzelne Welle schwebte über dem Strand und zögerte, ihn zu überschwemmen. Die Möwen aus rosa Stein hingen an unsichtbaren Drähten. Er drehte sich um und sah auf das Mädchen herunter. Ihre Gesichtsfarbe war unangenehm, und ihre Lippen wirkten schwarz. Sie hatte die Hand zu einer Geste erhoben, und ihr Mund war mitten in der Rede erstarrt.
    Er schloß die Augen ganz fest und öffnete sie erst nach einiger Zeit. Nichts hatte sich verändert. Er warf einen Blick auf die goldene Uhr. Der Sekundenzeiger rührte sich nicht. Auch seine Armbanduhr war stehengeblieben. Und dann entdeckte er die schwache Bewegung des Silberzeigers. Er hielt die Uhr ans Ohr und hörte eine anhaltende helle Note. Kirby hatte den Silberzeiger auf zehn verschoben. Nun stand er auf sieben Minuten vor zwölf. Offenbar war er nun seit drei Minuten in der roten Welt des Schweigens.
    Er machte versuchsweise zwei Schritte. Wieder spürte er den merkwürdigen Widerstand. Und seine Schuhe fühlten sich an, als würden sie Zentner wiegen. Es war schwer, die Füße zu heben und wieder aufzusetzen. Er schien sich durch eine klebrige Masse zu bewegen. Und der Druck gegen seinen Körper schien von den Kleidern auszugehen. Er bückte sich und hob einen weggeworfenen Pappbecher auf. Es war, als müßte er ein Bleigewicht heben. Er spürte das Gewicht während des Hochhebens, doch als die Bewegung aufhörte, erschien der Becher gewichtslos. Vorsichtig ließ er ihn los. Das Ding hing in der Luft, an der gleichen Stelle wie zuvor. Er streckte die Hand aus und schob ihn an. Der Becher bewegte sich, aber er hielt sofort an, wenn Kirby zu schieben aufhörte. Offenbar blieb in dieser roten Welt ein Körper nicht lange in Bewegung.
    Er sah wieder auf die Uhr. Drei vor zwölf. Er warf einen Blick auf die bewegungslosen Menschen am Strand. Er betrachtete die Uferstraße und sah den erstarrten Verkehrsstrom. Hoch über der Stadt klebte eine Düsenmaschine in der Luft.
    Vorsichtig rückte er den silbernen Zeiger zurück auf zwölf. Er wußte, daß er keine drei Minuten mehr in dieser roten Welt zubringen konnte.
    Als er auf das Rädchen drückte, hüllte ihn der Strandlärm mit einemmal wieder ein. Das Rot war verschwunden. Die Welle schlug gegen den Strand, die Möwen segelten dahin, der Becher fiel zu Boden.
    Bonny Lee starrte ihn an, schluckte und starrte ihn wieder an. »Liebling, du kannst dich aber rasch bewegen. Dachte gar nicht, daß du so gut in Form bist.«
    Er sah sie an und lachte. Er lachte, bis ihm die Tränen über die Wangen liefen und er die Hysterie in seiner Stimme hörte. Bonny Lee versuchte mitzulachen, aber nach einer Weile gab sie es auf und sah ihn besorgt an.
    »Kirby! Kirby, verdammt noch mal!«
    »Ich bin großartig in Form«, keuchte er. »Ich war noch nie besser in Form.«
    »Verdammt, bist du übergeschnappt, Liebling?«
    Er ließ sich von dem silbernen Zeiger wieder in die rote Welt bringen. Er brauchte Zeit, Zeit, um sein Gelächter zu überwinden, Zeit zum Nachdenken. Das Gelächter stellte er schnell ein. Es klang in der vollkommenen Stille hohl und geisterhaft. Bonny Lee saß wie eine Statue da und sah ihm in die Augen.
    Er schauderte und schüttelte sich wie ein nasser Hund. Er warf einen Blick auf die Uhr. Der Zeiger stand auf Viertel vor zwölf. Eine Viertelstunde, wenn er wollte. Oder, wenn er früher zurückkehren wollte, konnte er auf das Rädchen drücken.
    Das also war das Geheimnis. Die Welt blieb stehen. Nein, das stimmte nicht. Die Welt lief weiter, aber er trat aus ihr hinaus, in eine andere Zeit. Eine Stunde in der roten Welt entsprach dem Bruchteil einer Sekunde in der echten Welt.
    Damit ließ sich auch die Schwere aller Gegenstände erklären. Sie war ein Produkt aus der natürlichen Schwerkraft und der enormen Geschwindigkeit, die der

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