Flucht ins Ungewisse
Kapuze zurück, trat an das Bett und legte vorsichtshalber erst mal nur eine Hand auf die Schulter des Mannes.
Meine Hand begann sofort wie verrückt zu kribbeln, als wäre sie eingeschlafen. Ich spürte, wie sich jede Zelle meines Körpers nach dieser Kraft verzehrte, nach ihr lechzte.
Ich schluckte, um einen genussvollen Laut zu unterdrücken. Ich war ein Monster. Wie konnte ich mich nur am Leiden eines anderen Menschen derart erfreuen?
Ich schob meine Gedanken beiseite. Mit Gewissensbissen konnte ich mich später auch noch auseinandersetzen. Zuerst musste ich dafür sorgen, dass es mir und vor allem Lora wieder besser ging. Anschließend würde ich mit ihr reden müssen, wie wir uns weiterhin verhalten sollten. Denn so wie die Dinge jetzt standen, konnte es auf keinen Fall bleiben. Es war zu gefährlich für sie. Und auch für mich. Amanda könnte hier aufkreuzen, und dann?
Nach einem tiefen Atemzug, der viel klinische Luft und andere üble Gerüche enthielt, ertastete ich den schwachen Herzschlag von Loras Dad. Diesmal suchte ich nicht direkt das Herz, sondern die Hauptschlagader am Hals. Als ich den ruhigen Puls an meinen Fingerspitzen fühlte, spürte ich, wie er mein Handgelenk, meinen Arm hinauf kroch, und ich schloss die Augen.
Und los geht’s!
Ich brauchte mich nicht einmal stark zu konzentrieren, als ein Schwall von Gefühlseindrücken auf mich eindrosch.
Selbstzweifel und Trauer, Schuldgefühle und Reue. Angst. Mein Körper war wie gelähmt. Mein Herzschlag war verschwunden. Leise flüsternd nahm ich den Puls an meinen Fingerspitzen wahr. Er holte mich zurück, erinnerte mich daran, dass ich lebte. Gab mir eine einzigartige Sorte von Kraft.
Es war wie immer. Überwältigend, ertränkend, verführerisch. Und dennoch … Etwas war anders. Die Macht, die von den Gefühlen ausging, fühlte sich seltsam an. Als würde sie von etwas unterdrückt werden. Versteckt und gesichert in einer dunklen Schatulle im hintersten Winkel im Kopf des Mannes.
Der beständige Strom an Gefühlen, die durch meinen Arm auf mich übergingen, veränderte sich. Er wurde stärker. Zu einer Art Sog, der mich zu überwältigen drohte, wenn ich nicht davon loskam.
Ich kämpfte dagegen an, versuchte mich zu befreien. Ich wusste nicht einmal, was mich hier festhielt. Ich sah nur noch schwarze, hämmernde Punkte vor mir, die sich zu großen Kreisen ausbreiteten, als hätte ich Steine in einen Fluss geworfen.
Nach einem kurzen Aufschrei befand ich mich wieder im Krankenzimmer. Die Decke über mir verschwamm zu einem seltsamen Mosaik.
Ich kam hart auf. Der Schmerz bohrte sich dumpf in meinen Körper. Mein Kopf fühlte sich seltsam erhitzt an, meine Wangen befremdend. Der Schmerz, der unter meiner Schädeldecke pulsierte, ließ mich vermuten, dass ich eine offene Kopfwunde hatte und jeden Moment elend verbluten musste.
Vermutlich liegend wischte ich mit dem Handrücken über eine Wange. Es war kein Blut, das warm an meinem Gesicht hinablief. Es waren …
Tränen? fragte ich mich ungläubig. Wann hatte ich das letzte Mal geweint? Vor Jahren?
Ich fühlte mich, als hätte ich zwei Flaschen von Seths hartem Zeug auf ex getrunken. Mein Hirn musste haltlos zwischen meinen Ohren herumschwimmen.
„Hey Mann, alles klar?“
Nicks Stimme war mit Unsicherheit getränkt, als er sich neben mich auf den Boden hockte und mich ansah. Er, genauso wie die beiden anderen, hatte sich mächtig erschreckt, als ich mich gewaltsam von dem Sog befreit hatte und zu Boden gegangen war. Ich konnte es an ihren unregelmäßigen Herzschlägen und Atemzügen hören. Meine Sinne funktionierten anscheinend wieder einwandfrei.
Ich schüttelte den Kopf, um etwas Klarheit zu gewinnen. „Denke scho…“ Ich stockte, setzte mich kerzengerade auf und sah zu Loras Dad. Sofort wurde mir übel von dem Schwindel, der mich regelrecht anfiel. Dieses Geräusch eben!
„Er hat sich bewegt!“, zischte ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und hielt mir den Kopf.
Die anderen drei warfen ebenfalls einen Blick zu dem Bett. Lora lief an die Seite ihres Dads, nahm seine Hand in ihre. „Ist das wahr? Dad? Hörst du mich?“
Wieder vernahm ich eine schwache Bewegung. Ihr Dad war wieder bei Bewusstsein. Ganz sicher.
Er rollte seinen Kopf schwermütig zur Seite. „Lo…ra“, hauchte er mit einer Stimme, die selbst Bäume hätte niedersägen können.
„Das ist neu“, ließ Nick leise verlauten. Er hatte recht. Es war nicht normal, dass jemand aufwachte , wenn ich die
Weitere Kostenlose Bücher