Flucht ins Ungewisse
zu.
Es war nur eine Regung von etwa einer halben Millisekunde, aber sie erschrak.
Warum war sie mir gegenüber so bissig? Gut, irgendwie konnte ich es verstehen … Aber ich bemühte mich immerhin freundlich und hilfsbereit zu sein.
„Du machst mir keine Angst!“, behauptete sie trotzig.
„Dankbarkeit gehört wohl wirklich nicht zu deinen Charakterzügen, was?“ Ich nahm Syria vorsichtig aus meinem Schoß, stand auf und legte sie in ihr Terrarium zurück. Lora hielt immer ziemlich viel Sicherheitsabstand zu der Schlange und ich hatte keine Lust auf noch mehr Gemecker.
Ich hörte, wie sie aufstand und in ihre Schuhe schlüpfte. „Wenn das alles ist, was du mir sagen kannst, gehe ich!“
Noch bevor sie zu ihrer Jacke greifen konnte, war ich bei ihr und packte ihr Handgelenk. An meine Schnelligkeit hatte sie sich noch nicht gewöhnt, wie ihr Gesichtsausdruck verriet. „Du gehst nirgendwohin!“
Ein angenehmes Kribbeln lief durch meinen Körper. Ich zwang mich dazu, sie wieder loszulassen. Ein Akt, den ich bei Amanda wahrscheinlich nie geschafft hätte.
Lora trat einen Schritt zurück. „Ich bin keine Gefangene“, rief sie. „Ich halt es hier mit dir nicht mehr aus! Du hast nicht das Recht, mich hier einzusperren. Lass mich raus!“
Ich ballte eine Faust. Selten hatte ich so sehr etwas gebraucht, in das ich mit aller Kraft schlagen konnte. Doch jetzt wünschte ich mir jeden Boxsack der Welt herbei.
„Schön“, maulte ich sie an. „Bitte! Wenn ich dir zu viel bin … Ich gehe!“
In etwa zehn Sekunden hatte ich Schuhe und Jacke an und knallte die Tür hinter mir zu.
Wütend schnaubend stapfte ich die kurvenreiche Straße entlang. Keine Ahnung, wie lange ich nun schon unterwegs war. Es musste lang sein, denn die Stadt versank langsam im abendlichen Dämmerlicht. Auch ein feuchter Nebel legte sich über die Dächer.
Der Fluss, der ruhig zu meiner Linken lag, schlängelte sich gemächlich durch sein Bett. Der Fluss, aus dem ich sie vor ein paar Wochen gezogen hab!
Trotz der feuchten Kälte, die bis unter meine Kleidung kroch, kochte immer noch diese unbändige Wut in mir.
Zornig biss ich auf mein Lippenpiercing, rieb mit den Zähnen darüber. Für mich hörte es sich an, als würde jemand mit den Nägeln eine Schultafel entlangkratzen. Ich bekam eine leichte Gänsehaut, hörte aber nicht auf über dem Piercing zu schaben.
Was bildet sie sich ein? Ich reiß mir hier den Arsch für sie auf, versuche sie vor Amanda zu schützen, so gut es geht, und alles, was sie macht, ist sich beschweren.
Ich überlegte, ob ich den Job des Bodyguards vielleicht gehörig verfehlt hatte …
Sie wollte mir sogar davonlaufen!
Ich blieb abrupt stehen. Das leise Plätschern des Wassers durchdrang meine Gedanken. Lagerte sich dort ein.
Und was hab ich grad getan?
Erneut wütend geworden fuhr ich mir durch die Haare. Ich hatte mich nicht besser verhalten als ein trotziger Elfjähriger. Was hatte ich erwartet? Dass sie mir Kekse als Belohnung gab, weil ich auf sie aufpasste?
Warum regte ich mich über so etwas Lächerliches überhaupt auf? Ich sollte doch eigentlich dafür sorgen, dass ihr nichts geschah, und jetzt war ich durch die halbe Stadt von ihr getrennt! Seit wann war ich wieder so leichtsinnig? Ich wollte schon wieder vor den Problemen weglaufen. Darin war ich gut, denn das tat ich immer!
Ich atmete die kühle Luft tief ein, ließ sie in einem lang gezogenen Seufzer wieder raus. Ich sollte zurückgehen!
Mein Blick fiel auf die glänzende Oberfläche des Flusses. Die Lichtreflexion waberte und brach an einer Stelle, an der ein Stein aus dem Wasser lugte. Erst jetzt realisierte ich meine Umgebung richtig. Eine breite Grasfläche trennte den Fluss von dem gepflasterten Gehweg. Durch die Baumallee, die zusätzlich eine trennende Linie darstellte, streifte der bereits frostige Abendwind.
Ich zog die Schultern frierend hoch. Es ist scheißkalt , stellte ich nun endlich fest.
Gerade als ich mich wieder auf den Heimweg machen wollte, pulsierte etwas Warmes durch meinen Körper; brachte mich wieder zum Stehen.
Ich sah mich um. Der Weg war menschenleer. Außer den Geräuschen der in Wind getränkten Bäume und des Flusses konnte ich nichts wahrnehmen. Es war still. Und dennoch … Da war etwas. Oder jemand!
Ich drehte mich langsam um die eigene Achse und durchsuchte die Fenster der Häuserreihe nach jemandem, der mich beobachtete. Nichts.
Schließlich blieb mein Blick an einer im Dunkeln liegenden Gasse haften.
Weitere Kostenlose Bücher