Flucht nach Faerie - Beil, J: Talisman-Kriege 1 - Flucht nach Faerie
Michael eigentlich war. Kraig ertappte sich dabei, dass er dem Mann, der mittleren Alters zu sein schien, unwillkürlich jeden Tag mehr vertraute. Dennoch wusste er nach wie vor kaum etwas über ihn, abgesehen davon, dass er seit über zwei Jahrzehnten alleine außerhalb von Bartambuckel lebte und gelegentlich zum Trinken in den
Silberschild
kam. Woher besaß er sein umfassendes Wissen über die Welt und ihre Geschichte? Und wo hatte er gelernt, ein Schwert beinah so geschickt zu führen wie ein Klingenritter? Bei Grok, wer
war
er?
Sie waren eine gefühlte Stunde, in Wirklichkeit jedoch wahrscheinlich nur einige Minuten gegangen, als der Tunnel je in einen kleinen Raum mündete, etwa zwanzig Fuß im Durchmesser. Die dunklen, aus dem Fels des Berges gehauenen Wände waren ebenso rätselhaft glatt und schimmernd wie der Rest der Grüfte. In der Mitte lag eine graue Gestalt ausgestreckt auf dem Boden, als schliefe sie, trüb erhellt vom Licht der Fackel Michaels.
Langsam und vorsichtig betraten sie die Kammer, ließen mehr Licht auf die Gestalt fallen, die kein Leichnam war, zumindest wies sie keine sichtbaren Verwesungsspuren auf. Es handelte sich um eine jung aussehende Frau mit anmutigen Zügen und zierlichem Körperbau. Kraig sog scharf die Luft ein, als er ihre reine Schönheit erblickte. Sie trug durchscheinende, graue Gewänder, die sich lose auf den Boden rings um sie verteilten und ihre Brüste und Hüften verhüllten. Ihr Haar war lang und dunkel, das Gesicht hingegen blass, nahezu völlig weiß, die Nase schmal und scharf geschnitten. Die Ohren wiesen leichte Spitzen auf, doch diese seltsamen Züge betonten ihre Schönheit nur. Hätte sie gestanden, wäre sie so groß wie Kraig gewesen.
Michael betrachtete sie. Sofern ihr Anblick ihm ebenso den Atem verschlug wie Kraig, ließ er es sich nicht anmerken. »Sie ist eine Elbin«, flüsterte er ehrfürchtig. »Sie ist nicht tot, aber auch nicht lebendig, wie wir es kennen. Offenbar ist sie in den
Fey-non-morte
verfallen, den Schlaf, der kein Schlaf ist, den Tod, der kein Tod ist. So können Elben Jahre oder sogar Jahrhunderte der Trauer überdauern und erwachen, wenn die Zeit der Gram endet. Als Menschen ist es uns unmöglich, den Elbenschlaf zu verstehen, oder zu begreifen, warum die Elben ihn für notwendig erachten.«
Kraig nickte, außerstande, die Augen von dem wunderschönen Wesen abzuwenden. »Aber warum ist sie ausgerechnet hier? Warum sollte sie sich an einem so gefährlichen Ort in diesen … diesen Dämmerzustand begeben?«
»Ich weiß es nicht. Fragen wir sie.«
»Sie fragen? Wie?«
»Aus diesem tiefen und lange währenden Schlaf können sich Elben mit jemandem verständigen, der weiß, wie man in ihren Geist vordringt. Ich konnte das einst; vielleicht erinnere ich mich daran, wie es gemacht wird.«
»Ist das Magie?«
»Nein. Nur etwas, das unter den Elben üblich ist, eine Gedankenübung. Mit genug Zeit, Geduld und einem guten Lehrer kann es jeder lernen. Ich versuche es jetzt. Vielleicht kann sie uns sagen, warum diese Grüfte nicht mehr so sind, wie ich sie im Gedächtnis habe, und weshalb die Toten so rastlos sind.«
Michael kniete sich neben die schlummernde Elbin und legte ihr eine Hand auf die Brust. Mit der anderen schob er ihr das Haar aus der Stirn und küsste sie zärtlich. Dann senkte er das Gesicht zu ihrem Ohr und begann, ihr Worte zuzuflüstern, die Kraig nicht verstand. Er ergriff ihre schlaff auf dem Boden ruhende Hand und presste mit der anderen fester gegen ihre Brust, sodass sich seine Finger durch die Gewänder und ihr Fleisch in sie zu bohren drohten. Einen Augenblick lang dachte Kraig, der Einsiedler könnte sie verletzen, doch er ahnte, dass sie in diesem Zustand keine Schmerzen empfand. Dennoch erschien es ihm ein Verbrechen, diesem hellen, tadellosen Fleisch blaue Flecken zuzufügen …
Michaels Stimme wurde lauter, als er geheime Worte in das Ohr der Elbenfrau sprach, aber Kraig verstand sie immer noch nicht. Dann erfüllte plötzlich eine sanfte, weibliche Stimme die Kammer.
»Ich höre dich, Mensch. Warum störst du meinen Schlaf ?«
Ihre Lippen hatten sich nicht bewegt. Tatsächlich schien das Geräusch gar nicht von ihrem Körper auszugehen.
»Ich bin Michael. Elsendarin. Unter Umständen hast du von mir gehört.«
Mittlerweile sprach der Einsiedler mit gewöhnlicher Lautstärke, aber nicht mehr in ihr Ohr, sondern zur Decke, den Hals nach oben gestreckt, die Augen geschlossen. Mit einer Hand hielt er ihre
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