Flucht über den Himalaya
Chime oder ein Spielzeug für Dolker. Fielen die Münzen mit einem dumpfen Geräusch in die Tasse, war sie bald randvoll und die Erfüllung eines geheimen Wunsches sehr nah. Deshalb nannten die Mädchen den wilden Beschützer von Amas Ersparnissen ihren ›Glücksdrachen‹.
Vom Bett aus können sie beobachten, wie er seinen roten Drachenschwanz schnalzen läßt und böse grinsend Feuer aus den Nüstern bläst. Wirklich gefährlich wird der Glücksdrache allerdings nie, denn ein zarter Goldrand hält das Tier in Schach und gebietet auch dem Trinker angemessene Zurückhaltung, wenn er die edle Tasse an den Mund führt.
Es gibt Tassen, aus denen man mit Wonne dickflüssigen Buttertee schlürft. Und es gibt Tassen, aus denen man dezent den grünen Tee aus China nippt.
Eine solche Tasse war jene aus Xining.
Doch seit Vater nur noch üble Laune von seinen Geschäftsreisen nach Hause bringt, steht die Tasse auf dem obersten Regal des Küchenschrankes und wartet – wie die blassen Chinesinnen, die an der Ecke ihrer Straße stehen, mit Minirock und hohen Schuhen, die Lippen blutrot geschminkt, was das gespenstische Weiß ihrer Gesichter noch mehr zur Geltung bringt. Erst schimpften die Nachbarn auf die leichtgeschürzten Mädchen, die man sich um den Preis einer Coladose abholen kann. Doch irgendwann lästerten nur noch die Nachbarinnen, und die Männer fanden es interessant, daß die Chinesinnen auch bei zwanzig Grad minus noch Netzstrümpfe tragen.
Amala schimpft nie, wenn Paala erst morgens nach Hause kommt und sein Geldbeutel wieder leer ist. Sie verzweifelt auch nicht daran, daß ihre Haut viel dunkler ist als die der Chinesinnen und ihre erdfarbene Chuba viel länger als deren Röcke aus knallrotem Leder. Sie versucht sich auch nie an spitzen Schuhen mit dünnem Absatz. Denn Amas Gang gleicht einer Wiege, die abends ein Baby in den Schlaf schaukelt. Amas Hände sind immer rauh von der Arbeit und groß von der Liebe, die alles verzeiht. Wenn Ama lacht, vibriert die Luft vor Glück. Wenn Ama traurig ist, vibriert die Luft von ihrem Lachen. Chime hat ihre Ama noch nie weinen gesehen. Auch nicht, als Paala zum ersten Mal über Nacht wegblieb und plötzlich nach dem billigen Parfum der Mädchen roch. Und wenn Dolker spätabends nach ihrem Paala fragt, erzählt Ama, daß Väter manchmal auch nachts arbeiten müssen.
Chime hat längst aufgehört zu fragen. Mit ihren zehn Jahren weiß sie Bescheid: Wie ein Leuchtturm weist die Spielhalle der Stadt mit einer flackernden Leuchtbanderole all jenen Tibetern, die sich nicht mehr an die Traditionen halten, den Weg in den chinesischen Vergnügungshafen. Und wer bereits die Mädchen an der Ecke kennt, folgt meistens auch dem Ruf der nächtlichen Sirenen, die schnelles Geld verheißen. Hat der Steuermann Familie, reißt er Frau und Kinder mit ins Verderben.
Als Ama merkte, daß der sichere Boden unter ihrem wiegenden Schritt zu schwanken begann, handelte sie mit Entschlossenheit. Nun stellt sie ihr Bett schon frühmorgens auf die Straße und legt darauf die Ware aus, die sie nachts mit brennenden Augen und müdem Rücken angefertigt hat: von Hand gewebte Taschen, Teppiche und buntgestreifte Schürzen, die nur verheiratete Frauen tragen. Ihr besonderes Geschick sprach sich schnell herum, und nach dem Markttag ist wieder das vertraute Klimpern kleiner Münzen zu hören, die auf den tiefen Grund der leeren Drachentasse fallen.
Doch wenn ein Spieler im Haus ist, nützt auch ein feuerspeiender Hüter nicht viel:
Das Geld, das Ama in vielen Tagen mühevoller Kleinarbeit erwirtschaftet, verspielt der Vater während einer Nacht. Also ließ Ama eine neue Haustür zimmern, um dem Vater nicht nur den Zutritt zu den Ersparnissen, sondern auch den Weg zu ihrem Herz zu erschweren. Sie hat Dolker erzählt, die Maßnahme gälte nächtlichen Dieben. Aber auch die jüngere Tochter ahnt mittlerweile, wer der Dieb in ihrem Haus ist.
»Dekyi, mach auf!«
Klopft der Vater nach durchzechter Nacht frühmorgens an der verriegelten Tür, umfaßt die Mutter mit der Hand das Bettgestell, um diesmal endlich stark zu bleiben!
Dolker stellt sich vor, daß der Vater, der vor der Tür steht, ihr Paala aus früheren Zeiten ist: mit einer Blume aus Papier im Knopfloch und einem kleinen Vogel unterm Hut. Chime weiß nicht, was sie hoffen soll. Ihr Wunsch, für den Ama schon seit langem spart, ist groß: ein Radiorekorder, der all die Schlager aus Amerika in ihr Haus bringt, aus dessen Ecken das Glück
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